Eine Schule für unsere Kinder und unsere Lehrer
Unser letzter Newsletter in diesem Jahr ist zwei Grundsatzfragen gewidmet: Wie sollte die Schule sein, damit möglichst alle Kinder möglichst viel von dem lernen, was sie in ihrem weiteren Leben «brauchen» (nicht nur im ökonomischen Sinn!)? Und welche Voraussetzungen müssen die Schule und die Lehrerbildung erfüllen, damit uns nicht immer mehr Lehrerinnen – oft gerade die besten – davonlaufen? Diese zwei Dauerbrenner stehen seit den untauglichen Schulreformen der letzten Jahre und Jahrzehnte im Raum, und sie machen auch den Kern der Texte unseres Newsletters aus.
Wenn Zehntausende von Schülern «auf der Strecke bleiben», ist das Schulsystem von Grund auf zu hinterfragen
In der Schweizer Volksschule erreicht heute ein besorgniserregender Teil der Kinder die Lernziele ihrer Klasse nicht, so René Donzé («Wenn Schüler auf der Strecke bleiben», «Eine Kapitulation mit schwerwiegenden Folgen»). Nun, das gab es in kleinerer Zahl schon in meiner Schulzeit. Kinder sind keine Roboter, und sie haben bekanntlich unterschiedliche Vorgeschichten, wenn sie in die Schule kommen. Aber bis vor zehn, zwanzig Jahren ist niemand auf die Idee gekommen, die Lernziele für diese Kinder «anzupassen», das heisst ihnen fortan leichtere Aufgaben zu geben als ihren Mitschülern und einfach keine Noten in ihr Zeugnis zu schreiben. Im Klartext: Einen Teil unserer Jugend faktisch auf ihrem Stuhl im Schulzimmer und auf ihrem Lernniveau sitzen zu lassen, zum Beispiel in Deutsch oder Mathematik oder in anderen Fächern. Mit fatalen Folgen für das Gemüt der «abgehängten» Kinder, für ihre Lernfähigkeit, ihren Lebensmut und für ihre berufliche Zukunft.
Donzé erwähnt eine Studie aus der PH Zürich, wonach Lernzielanpassungen und Zeugnisse ohne Noten bei der späteren Lehrstellensuche eine «formelle Diskriminierung» bedeuten, «die sich nachhaltig auf das Leben der Kinder auswirkt».
Gut, dass sie das in der PH endlich gemerkt haben – jetzt erwarten wir aber Konsequenzen! Denn diese «formelle Diskriminierung» basiert auf dem Konzept des Lehrplan 21 mit seinen Tausenden von unstrukturierten Modulen und seinen Gedankensprüngen, die ein sinnvolles Lernen verhindern. Zu diesem verqueren Konzept gehört auch das «selbstorganisierte Lernen SOL». Und es gehören die beiden Frühfremdsprachen dazu, die – nicht nur den fremdsprachigen! – Kindern die Köpfe verwirren, bevor sie die Grundlagen der deutschen Sprache gelernt haben.
Wenn Schule und Eltern am selben Strick ziehen, läuft's besser
Thomas Kubelik hat natürlich recht, wenn er auf die zahlreichen ausserschulischen Probleme unserer Zeit hinweist, die vielen Kindern ein ruhiges und konzentriertes Lernen in der Schule und eine gedeihliche Entwicklung und Reifung ihrer Persönlichkeit erschweren («Sind heutige Schüler überfordert?»). Aber dass es nur selten an der Schule liege, wenn Kinder unter «Schulstress» leiden, würde ich so nicht stehenlassen. Das oben geschilderte untaugliche Lehrplan-Konstrukt der heutigen Volksschule führt unweigerlich zu Stress, sei es durch das Alleinlassen der Kinder mit ihrem nicht verstandenen Lernstoff, sei es durch die permanente Unruhe im «Grosslernbüro», in der gute Lerner sich die Ohren verstopfen müssen, um sich konzentrieren zu können.
Gerade wegen der digitalen Dauerberieselung vieler Kinder in der Freizeit und der oft zu wenig fordernden Anleitung zu Hause wäre eine Schule, in der mit dem Lehrer und den Mitschülern zusammen der Lernstoff in Ruhe erarbeitet werden kann, besonders dringend nötig. Es ist wenig sinnvoll abzuwägen, wer «mehr schuld» ist an den heutigen Zuständen. Am besten geht es, wenn Eltern und Lehrer in einem gedeihlichen Miteinander zusammenwirken, gerade auch bei der Eindämmung überbordender Medieneinflüsse. Wie Philippe Weber festhält, ist ein stetes Abwägen nötig, wo der Einsatz von IT-Geräten sinnvoll ist und wo sie zu «Parasiten in den Schulzimmern» werden. Dies sollte auch zu Hause gelten.
Chancengleichheit heisst nicht, dass alle Kinder im selben Schulzimmer sitzen
Heute sind Kleinklassen bei vielen «Bildungsexperten» verpönt, denn es sei für ein Kind diskriminierend, nicht mit allen Gleichaltrigen gemeinsam beschult zu werden. Wenn alle in derselben «Lernlandschaft» sitzen und jedes sich nach seinen «Bedürfnissen» und «Interessen» sein Lernen «selbst organisieren» soll, widerspricht das jedoch der sozialen Natur des Menschen. Die Schule ist nicht gerechter, wenn alle Kinder dieselbe Software zur Verfügung haben und selbst dafür verantwortlich gemacht werden, ob sie ihre Chance nutzen oder nicht. Das ist im Gegenteil ausgesprochen ungerecht. Die beste Chance, beim Lernen und im Leben voranzukommen, haben Kinder, die von ihrem Lehrer ins Lernen eingeführt und sich mit ihm und ihren Mitschülern zusammen den Schulstoff erarbeiten können. Dabei merkt jede geschulte Lehrerin, ob und wo einzelne Kinder hängenbleiben, und kann ihnen darüber hinweghelfen.
Wo das innerhalb der Regelklasse nicht gelingt, kann eine Kleinklasse oft eine bessere Chance für ein Kind eröffnen. Deshalb rufen viele erfahrene Lehrerinnen und Lehrer heute dazu auf, wieder geeignete Kleinklassen einzuführen. Eine besonders geglückte Sache sind Einschulungsklassen, wo die Kinder nach dem Kindergarten den Schulstoff der ersten Klasse mit einer heilpädagogisch gebildeten Lehrerin in zwei Jahren erarbeiten und dann in die zweite Regelklasse einsteigen können. Das ist echte Chancengleichheit: Jedes Kind hat das Recht auf gleiche Chancen, in seiner Schulzeit seine Persönlichkeit geistig, manuell und emotionell entwickeln zu können, als Grundlage für ein erfülltes Leben.
Eine Lehrerbildung, die diesen Namen verdient
Es ist nicht schwierig herauszufinden, welche Schule die Lehrerinnen und Lehrer für sich und vor allem für ihre Schüler wünschen – man braucht nur die Ohren zu spitzen und die Leserbriefe in den Zeitungen zu lesen: Zum Beispiel homogene und nicht zu grosse Klassen; Unterrichten statt Coachen und Bewertungsbögen abhaken; digitale Geräte – als Hilfsmittel! – frühestens ab der Mittelstufe; Abbau der ausufernden Administration; einen tauglichen Lehrplan (also nicht den Lehrplan 21); Weiterbildungen, die der Lehrerin neuen Schwung und Freude an ihrem Beruf geben.
Der Lehrerberuf bliebe auch mit solchen Erleichterungen und Verbesserungen ein sehr anspruchsvoller Beruf, besonders in Klassen mit vielen fremdsprachigen Kindern und erst recht in Zeiten der Pandemie. Aber es ist die Aufgabe der Volksschule, auch unter widrigen Umständen ihrem Auftrag gerecht zu werden. Wenn es richtig angepackt wird, ist es möglich, auch Kinder aus «bildungsfernen» Familien oder aus anderen Kultur- und Sprachräumen in elf Jahren (inklusive Kindergarten) Lesen, Schreiben und Rechnen zu lehren und was sonst noch alles nützlich und begeisternd fürs Leben ist.
Dazu brauchen wir aber eine Lehrerbildung, die den Studenten nicht beibringt, wie sie mit dem Lehrplan 21 und der Organisation von Einzelprogrammen für die Kinder über die Runden kommen – bis sie den Schnauf verlieren und aufgeben. Eine gute Lehrerbildung hat die jungen Leute anzuleiten, wie man einen Klassenunterricht so führen kann, dass sowohl leistungsstarke als auch -schwächere Schüler vorankommen. Dazu gehört unabdingbar die Vermittlung des Lernstoffs durch die Lehrerin in einem strukturierten Aufbau, verbunden mit genügend Zeit für die Schüler zum Üben und Vertiefen, zum Weiterdenken und zum gegenseitigen Austausch. Und es gehört auch Freude an spontanen Einfällen und Beiträgen der Kinder dazu und an den Unwägbarkeiten des Schulalltags. Damit kommen wir beim ersten Artikel unseres Newsletters an, in dem Carl Bossard sich ein weiteres Mal als pädagogischer Könner erweist: Ein Könner, der sich in jeder Schulstunde bewusst ist, dass man nicht einfach eine vorbereitete Lektion auf die Schüler loslassen kann, sondern bereit sein muss für das Unvorhersehbare und für die Frage, ob und wie man es das nächste Mal anders anpacken soll.
Diese Feinheiten des Lehrerlebens kann man aber auch als begeisterter Junglehrer nicht aus dem Ärmel schütteln: Man kann sie mit der Zeit lernen, wenn man den Willen und den Mut dazu hat, und wenn man erfahrene Kollegen oder Ausbildner hat, die einem, vor allem in den ersten Jahren, zur Seite stehen. So ging es mir jedenfalls als junger Berufsschullehrerin – ich war noch so froh um meinen verständnisvollen und hilfsbereiten Mentor und um den Lehrerkollegen, bei dem ich mitten im Unterricht an die Tür klopfen konnte, wenn ich einmal nicht weiterwusste. Solche Kollegen wünsche ich allen Junglehrerinnen und Junglehrern!
Die Redaktion des Newsletters «Starke Volksschule Zürich» wünscht Ihnen frohe und besinnliche Festtage und einen guten und gesunden Rutsch ins Neue Jahr.
Marianne Wüthrich