«Königsweg» duale Berufsbildung – «Neutraler» Unterricht
Diese zwei Themen stehen in unserer aktuellen Artikelsammlung im Vordergrund.
Zum Einstiegsinterview mit dem Neuropsychologen Lutz Jäncke bedarf es nicht vieler Worte – tauchen Sie ein in einige einfache Tatsachen, die jeder Lehrer über das Lernen und die Lernbeziehungen wissen und dabeihaben sollte. Die Antworten auf die Fragen zur Digitalisierung in der Schule ergeben sich dann sozusagen von selbst.
Die Berufslehre bietet mindestens so gute Chancen wie das Gymnasium
Unter diesem Titel stellt die NZZ eine neue Studie des SECO vor.[1] Die Autoren haben den «Wert von Ausbildungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt» aufgrund vieler Daten erhoben, dargestellt und analysiert und sind wenig überraschend zum Resultat gekommen, dass der – nicht nur am Lohn gemessene! – «Wert» der dualen Berufsbildung der Schweiz einzigartig ist. Die Studie stellt nicht nur auf den höchsten Bildungsabschluss einer Person ab, sondern sie bezieht mit ein, dass viele Hochschulabsolventen zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn eine Lehre absolviert haben. Jeder von uns kennt eine Ärztin, die zuerst in der Krankenpflege gearbeitet hat oder einen Lehrer, der seinen Berufsweg mit einer Lehre als Elektroinstallateur begonnen hat. Der heutige Trend zu höheren Abschlüssen bedeutet also noch lange nicht, dass weniger Jugendliche mit einer Berufslehre starten. Im Gegenteil: 63 Prozent der jungen Erwachsenen haben als Erstabschluss eine Berufslehre gemacht. Und besonders erfreulich: Der Anteil an Personen ohne abgeschlossene Ausbildung nach der Volksschule hat sich in den letzten 20 Jahren von 17 auf 11 Prozent reduziert.
Erwerbslosenquote, Lohn und Zufriedenheit mit der Arbeitssituation
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Die im internationalen Vergleich tiefe Erwerbslosenquote in der Schweiz hängt eng mit dem dualen Berufsbildungssystem zusammen. Wer eine Lehre gemacht hat, findet oft leichter eine neue Stelle als ein Studienabgänger, weil er schon im Erwerbsleben «drin» ist. Manche können in ihrem Lehrbetrieb bleiben, andere wissen von einer Mitschülerin, dass bei ihr etwas frei ist. Oder der Chef eines Unternehmens stellt einen Bewerber ein, weil er dessen Lehrbetrieb kennt und weiss, dass die Leute dort gründlich ausgebildet werden. Es kam in meiner Zeit an der Berufsschule immer einmal wieder (aus verschiedenen Gründen) vor, dass ein Schüler sogar während der Lehre seine Stelle verloren hat. Meistens fand er – falls er die Lehre abschliessen wollte – für die letzten ein, zwei Jahre Unterschlupf im Betrieb eines Mitschülers, weil dieser sich bei seinem Chef für ihn eingesetzt hatte.
Besonders wenige Erwerbslose gibt es laut der Studie unter den Leuten, die beides haben: eine Berufslehre und einen Tertiärabschluss. (Ist ja logisch).
Dass Hochschulabsolventen im Schnitt mehr verdienen als Lehrabgänger, leuchtet ein. Aber Geld allein macht bekanntlich nicht glücklich: Die Autoren der Studie stellen fest, dass die Zufriedenheit mit der Arbeit sich bei den Beschäftigten mit verschiedenen Bildungsabschlüssen kaum unterscheidet. Das kann ich bestätigen. Die Zufriedenheit, ja der Stolz auf ihre Arbeit und ihren Lehrbetrieb hat mich an meinen Schülerinnen und Schülern immer sehr beeindruckt. Nur selten sagte der Beruf oder die Arbeitssituation oder die Atmosphäre im Betrieb einem Jugendlichen so wenig zu, dass er seine Lehre abgebrochen hat. Mit den unterschiedlichen Löhnen, auch innerhalb desselben Berufs, hatte die Unzufriedenheit jeweils keinen Zusammenhang.
Zusammenfassend gehe ich ganz einig mit Hansueli Schöchli in der NZZ: Die duale Berufslehre «integriert die Mehrheit der Jugendlichen schon früh in den Arbeitsmarkt, setzt die Saat für die nächste Generation qualifizierter Fachkräfte und schafft eine solide Basis für verschiedene Wege der Weiterentwicklung.» Nicht umsonst gilt sie als «Königsweg».
Was ist «politisch neutraler» Unterricht?
Im Zürcher Kantonsrat wurden kürzlich zwei parlamentarische Initiativen diskutiert, die eine bessere gesetzliche Verankerung der politischen und konfessionellen Neutralität der Schule und deren Lehrmittel anstrebten. Zwei Artikel unserer aktuellen Sammlung befassen sich deshalb mit der Frage, wo die «sachliche Information» endet und die «Propaganda» beginnt. Die Vorstösse wurden vom Parlament nach lebhafter Debatte zwar mit 92 zu 74 Stimmen abgelehnt, der grosse Anteil an Befürwortern zeigt aber, dass die Etikette «viel Lärm um nichts», die ein Kantonsrat dem Thema aufkleben wollte, nicht gerechtfertigt ist.
Selbstverständlich werden viele Themen in den Lehrmitteln nicht «neutral» behandelt – wer etwas anderes behauptet, glaubt vielleicht, seine eigene Meinung sei «neutral». Die Autoren der Lehrmittel tragen ihre Auffassungen unweigerlich hinein, schon die Auswahl der Themen hängt davon ab, was ihnen vordringlich erscheint. Das ist menschlich. Nicht akzeptabel ist es hingegen, wenn die Lehrmittelverfasser wegen ihrer Gesinnung ausgewählt oder abgelehnt werden – wir wissen alle, dass dies (häufig) vorkommt.
In meiner Zeit als Berufsschullehrerin habe ich aber die Erfahrung gemacht, dass die Persönlichkeit der Lehrerin und ihre ureigene Art, ihren Schülern etwas auf den Weg mitzugeben, oft mehr Wirkung hat als das, was im Lehrmittel steht. Einige meiner allgemeinbildenden Kollegen haben zum Beispiel ihre Klassen über manche staatskundliche Themen sehr einseitig «informiert». Obwohl ich selbst mir des Problems bewusst war, ist meine eigene Position natürlich auch durchgeschimmert. Wenn ich zum Beispiel mit einer Klasse eine aktuelle Abstimmungsvorlage behandelt habe, brachten die Schüler ein, was sie darüber gehört hatten und holten die Inhalte und die Pro- und Kontra-Argumente aus dem Abstimmungsbüchlein heraus. Dann haben wir darüber diskutiert, und ich habe mich mit meiner Auffassung ebenso eingebracht wie die Jugendlichen. Wenn sie hinterher von mir wissen wollten: «Sind Sie jetzt dafür oder dagegen?», war ich jedes Mal erstaunt, weil ich dachte, mich deutlich geäussert zu haben. Aber diese Frage war auch eine Bestätigung, dass ein «neutraler» Unterricht doch ein Stück weit möglich ist: Im ehrlichen und offenen Gespräch mit der Klasse kann der Pädagoge seine Persönlichkeit und seine Auffassungen hineingeben und seinen Schülern gleichzeitig die Freiheit lassen, sich selbst eine Meinung zu bilden. So tragen wir dazu bei, dass sie aktive und eigenständig denkende Staatsbürger werden können.
Nun wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.
Für die Redaktion der Starken Volksschule Zürich
Marianne Wüthrich
[1] Manuel Aepli, Andreas Kuhn und Jürg Schweri (2021): «Der Wert von Ausbildungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt». Grundlagen für die Wirtschaftspolitik Nr. 31. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern, Schweiz.