Lassen wir uns nicht vom Wesentlichen ablenken!
Unser Newsletter widmet sich zuerst den beiden spannenden und pädagogisch lehrreichen Vortragsabenden mit Diskussion des «Vereins Starke Volksschule Zürich» und der «Starken Volksschule St. Gallen», die nach längerer pandemiebedingter Pause zur Freude aller Teilnehmer wieder stattfinden konnten. Die Starke Volksschule Zürich hielt ihren Vortragsabend im Glockenhof ab, zur allgegenwärtigen Frage «Wie viel Digitalisierung in der Schule ist sinnvoll und wo sind die Grenzen?» Vereinspräsident Timotheus Bruderer hat bereits im Vorwort des letzten Newsletters über die lebendigen Referate von Yasmine Bourgeois und Nina Fehr sowie die rege Beteiligung der Anwesenden an der Diskussion berichtet. Dieses Mal lesen Sie den Pressebericht eines Besuchers der Veranstaltung.
Die St. Galler trafen sich im Rebstock in Wil zu einem Referat von Dr. phil. Beat Kissling, der «Für eine Schule des Gemeinsinns und ein Lernen im Dialog» eintrat und zu einer dringend notwendigen Gegenbewegung gegen das sogenannte «selbstorganisierte Lernen SOL» der Schüler und die Herabstufung der Lehrer zu blossen «Coaches» aufrief. Anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse und seiner eigenen Erfahrungen als langjähriger Lehrer zeigte Beat Kissling auf, dass das Lernen des Kindes von klein auf und später in der Schule als wichtigste Bedingung eine vertrauensvolle Beziehung zum anleitenden und voranschreitenden Erwachsenen voraussetzt. Statt in Lernnischen für sich allein Aufgaben abzuarbeiten, brauchen die Kinder und Jugendlichen heute wie früher die Lehrerin, die mit ihnen den Weg zum sozialen Miteinander in der Klassengemeinschaft geht. Interessant ist der Hinweis, dass etliche Pädagogen in den angelsächsischen Ländern – die uns Kontinentaleuropäer in den letzten Jahrzehnten zu wenig tauglichen Schulreformen «angeregt» haben – heute die grosse Bedeutung des Klassenunterrichts und des Aufbaus eines vom Lehrer geführten und von den Schülern mitverantworteten Lerndialogs erkannt haben.
Von verschiedenen Ausgangspunkten zu ähnlichen Resultaten
Referenten und Teilnehmer in Wil wie in Zürich kamen von verschiedenen Ausgangspunkten zu ähnlichen Resultaten: Um unsere Jugend zu einem Leben als verantwortungsvolle und gemeinschaftsfähige Erwachsene mit soliden schulischen Kenntnissen und Fertigkeiten hinzuführen, ist eine Besinnung auf die Grundbedingungen des Lernens nötig. Auf diesem Boden wird auch klar, dass iPhones und Tablets nicht in die ersten Schuljahre und schon gar nicht in den Kindergarten gehören. Wie Nina Fehr, Mutter von zwei kleinen Kindern, sowie zwei Kindergärtnerinnen in der Diskussion im Glockenhof bestätigten, muss im Chindsgi genug Raum sein für die Aneignung vielfältiger Fähigkeiten (manuell, kognitiv, sozial) sowie für die Erkundung der Umgebung und für die ersten Schritte in die Welt mit der Kindergärtnerin zusammen. In der Unterstufe kommen als weitere zentrale Ziele die ersten Bausteine der Muttersprache und der Mathematik dazu, die der Lehrer in einem klar strukturierten Aufbau mit seiner Klasse zu erarbeiten hat, damit alle Kinder die Chance haben, richtig lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Frühestens ab der Mittelstufe sollten digitale Geräte für die einzelnen Schüler eingesetzt werden, und auch diese nur als Hilfsmittel, dort, wo es sinnvoll ist.
Dass die Autorin dieses Vorworts den Inhalten der beiden Vortragsabende so viel Raum gibt, hat einen einfachen Grund: Bei solchen Informations- und Gedankenaustausch-Abenden immer einmal wieder als aktive und mitdenkende Zuhörer dabei zu sein, ist eine wertvolle Hilfe, um unseren eigenen Massstab an schulpolitische Abläufe und an die vielen Artikel, die wir zu pädagogischen Fragen zu lesen bekommen, zu schärfen und zu verfeinern. In diesem Sinne sollen zu einigen Texten in diesem Newsletter kurze Denkanstösse folgen.
KV-Reform: Berechtigte Kritik am kompetenzorientierten Umbau einer soliden Berufslehre
Aus der «Basler Ecke» kommen oft bemerkenswert klare Stellungnahme, diesmal von der GLP-Nationalrätin Katja Christ, die sich wie zahlreiche andere Kritiker dagegen zur Wehr setzt, dass das «neue pädagogische Mantra» – die Kompetenzorientierung – nun auch dem KV aufgedrückt werden soll, trotz den schlechten Erfahrungen mit dem Lehrplan 21 an der Volksschule. Sie weist auch darauf hin, dass die Attraktivität der dualen Berufslehre nicht gesteigert werden muss, weil diese bereits heute sehr attraktiv und durchlässig ist. Als ehemalige KV-Lehrerin kann ich das nur bestätigen und dazu ergänzen: Statt ein gutes Modell verkümmern zu lassen, setzen wir uns gescheiter dafür ein, dass das KV sein aktuell hohes Bildungsniveau und seine Grundlagenfächer beibehält – unserer Jugend und den Betrieben zuliebe!
Anmerkungen zu Schulreformen und Digitalisierung von Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers
Denkanstoss zum 1. Teil: Schon klar, dass Smartphone und Twitter die Welt unserer Jugend stark beeinflussen. Aber wir sollten uns von den technologischen Neuerungen, die uns um die Ohren sausen, nicht vom Wesentlichen ablenken lassen: Die Voraussetzungen für ein förderliches Lernklima sind dieselben geblieben. Deshalb haben wir Erwachsenen die Pflicht, unsere ganzen Kräfte einzusetzen, damit nicht ein Teil unserer Jugend im Medienbad ertrinkt.
Denkanstoss zum 2. Teil: Hier setzt sich Jürgen Oelkers mit verschiedenen Sichtweisen des «selbstorganisierten Lernens» auseinander und kommt erfreulicherweise schliesslich bei John Hattie und anderen Initianten von Metastudien an, die unweigerlich auf die Tatsache gestossen sind, dass es «auf den Lehrer ankommt» (Selbstverständlich auch «auf die Lehrerin», was der Autor nötig findet zu erwähnen. Aber auch durch den Gender-Hype sollten wir uns nicht vom Wesentlichen ablenken lassen und uns schon gar nicht mit Absurditäten von der Art befassen, ob es neben dem «Coach» auch eine «Coachin» gebe – in der englischen Sprache ist das Nomen nun einmal geschlechtsneutral). Also zurück zum Wesentlichen: Dass es auf den Lehrer ankommt, gelte nicht nur in Bezug auf eine «effiziente Klassenführung» so Jürgen Oelkers, sondern beinhalte auch «eine interessante, klare, verständliche und vernetzte Präsentation neuer Inhalte und Konzepte, die Aktivierung des vorhandenen Vorwissens der Schüler» (und so weiter). Im Übrigen müssten die Schüler auch das Ihrige zum Unterricht beitragen. Dazu kann jeder, der schon einmal unterrichtet hat, nur sagen: Nichts Neues unter der Sonne…
Denkanstoss zum 3. Teil: Hier befasst sich der Autor mit der «Schule der Zukunft» und hält fest, dass deren «Transformation» nur dann etwas bringe, wenn die Lehrer vom «didaktischen Mehrwert» der digitalen Medien überzeugt seien. Und er hält fest: «Aber die neuen Technologien müssen der Schule angepasst werden, nicht umgekehrt.» Genau, kommen wir zum Wesentlichen zurück!
Mit Begeisterung lese ich den allerletzten Satz von Professor Oelkers, der verschiedene Schwankungen in seinen Ausführungen wieder wettmacht: «Was unbedingt vermieden werden sollte, sind dilettantische Versuche, die von keiner wirklichen Überzeugung getragen sind. Alles andere sollte man abwarten und sich nicht beirren lassen, auch nicht von den gigantischen Investitionssummen, die heute im Spiel sind. Sie werden sich nicht ohne die Lehrpersonen rentieren.»
Der Newsletter wird abgerundet mit drei Artikeln zum geringeren Lerneinsatz von Schülern während des Fernunterrichts, zur Frage der freien Schulwahl und einem persönlichen Erfahrungsbericht eines Lehrers, der sich nach vielen frustrierenden Erlebnissen in seiner Schulgemeinde zur Kündigung entschlossen hat. Letzter Denkanstoss für dieses Mal: Nehmen wir solche Stimmen ernst, auch wenn vielleicht nicht jeder von uns Lesern mit allem einverstanden ist – wer sich mit seinen persönlichen Anliegen an die Öffentlichkeit wendet, verdient es auf jeden Fall, dass wir ihm zuhören.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Marianne Wüthrich, Redaktion Starke Volksschule Zürch