Die allgemeine Pädagogik kann aus dem Umgang mit unruhigen Buben einiges lernen
Primäre Beziehungsmuster werden auf Lehrpersonen übertragen
Erfährt ein Kind in den ersten Lebensjahren von seinen Eltern emotionale Zuwendung und liebevolle Erziehung, entwickelt es ein Grundvertrauen, das Voraussetzung für einen guten Start ins Leben ist. Wie Carl Bossard in einer aufschlussreichen Zusammenfassung eines Vortrags von Henri Julius schreibt, übertragen sich primäre Beziehungsmuster aus der Kindheit später auf Lehrpersonen, die als sekundäre Bezugspersonen eine wichtige Funktion erhalten. Das grosse Vertrauen der meisten Kinder in die Lehrerin oder den Lehrer gibt der Pädagogik der Volksschule eine klare Richtung vor: Der Beziehungsarbeit muss Vorrang eingeräumt werden.
Das Hineinversetzen in die Welt der Kinder und Jugendlichen ist ein wichtiger Teil der Vorbereitung für einen guten Unterricht. Eine tragfähige Beziehung, die auch Durstrecken übersteht, beruht auf dem Einfühlungsvermögen der Lehrperson und gegenseitiger Wertschätzung. Konkret bedeutet dies, dass es sich lohnt, wenn eine Lehrerin den täglichen Unterricht mit kleineren und grösseren Höhepunkten attraktiv gestaltet.
Spannende, berührende und schöne Momente müssen im Schulalltag ausreichend Platz haben. Wenn sich eine Klasse am Morgen auf eine oder mehrere Lektionen freut, stimmt das Lernklima. Die Schüler wissen, dass dann Bedeutendes zur Sprache kommt und es sich lohnt, voll dabei zu sein. Wo diese Unterrichtsqualität vorhanden ist, sind die allermeisten Schüler bereit, auch die Alltagsarbeit des Übens, des anstrengenden Lernens und sorgfältigen Ausführens schriftlicher Aufträge zu akzeptieren.
Buben stufen soziales Wohlverhalten nicht unbedingt hoch ein
Das Konzept der Verbindung von Attraktivität und gründlichem Lernen passt bestens zur Bubenpädagogik, die in den beiden Startbeiträgen unseres Newsletters thematisiert wird. Ausgangspunkt für die Texte sind die gehäuften Schwierigkeiten mit Buben in vielen Volksschulklassen. Offenbar ist es weit schwieriger, Knaben mit Belohnungen und Strafen für ein vernünftiges Wohlverhalten in einer Klassengemeinschaft zu gewinnen als die meisten Mädchen. Die Autoren heben hervor, dass für viele Buben kämpferische Auseinandersetzungen um Anerkennung in der Peergruppe und Diskussionen um spannende Sachfragen von weit grösserer Bedeutung sind als skalierte Belohnungen im Schulbetrieb. Dieses Wissen müsste eigentlich helfen, die richtigen Schlüsse für den Unterricht zu ziehen.
Ein völlig störungsfreier Unterricht ist sicher ein überzogenes Ideal. Wenn es aber einer Lehrperson gelingt, bedeutende Themen ins Zentrum des Unterrichts zu stellen, sind auch die Buben konzentriert und haben kein Interesse querzuschlagen. Wie ein Elektromotor genau funktioniert, interessiert sie in der Regel weit mehr als in einer Französischlektion das Vokabular eines alltäglichen Sachgebiets zu erschliessen. Holt man sie in ihren oft erstaunlich vielfältigen Interessengebieten ab, kann man viel von ihnen verlangen. Wichtigste Voraussetzungen dafür sind Begeisterungsfähigkeit und Fachkompetenz der Lehrperson.
In einem Unterrichtsklima des gemeinsamen entdeckenden Lernens mit klaren Bildungszielen verlieren auch in eher unruhigen Klassen disziplinarische Fragen einiges an Schärfe. Generell halten die Autoren fest, dass ein direkter Unterrichtsstil mit klarem Feedback eine geordnete Klassenführung enorm erleichtert. Nicht zuletzt sieht man dies bei Lehrerinnen auf der Sekundarstufe, die erstaunlich gut mit sogenannt schwierigen Jugendlichen zurechtkommen, wenn sie unmissverständliche Anforderungen stellen und ein grosses Herz für die Interessen der Schüler zeigen.
Es ist nicht angebracht, Bubenpädagogik isoliert zu betrachten. Vielmehr sollten daraus wieder mehr bewährte Elemente in die allgemeine Pädagogik einfliessen. Das bedingt allerdings, dass der aktuelle Lehrplan radikal entrümpelt wird und dem pädagogisch Bedeutenden wieder mehr Zeit und Musse eingeräumt wird.
Bei umstrittenen Reformen geht es oft um die Frage des Menschenbilds
Schon eher ein pädagogischer Albtraum ist der Beitrag über die künftigen Möglichkeiten von Lernprogrammen, die auf künstlicher Intelligenz basieren. Was da auf unsere Volksschule zukommen könnte, zeigt ein mehrseitiger Ausblick eines Autorenteams. Wir tippen die umstrittene Thematik nur an, über einen Link finden Sie aber den ganzen Text. Tatsächlich scheint seelenloses Lernen ohne die direkte Mitwirkung einer Lehrerin oder eines Lehrers in einigen Ländern eine Option für die Zukunft zu sein.
Die konzentrierte Antwort von fünf renommierten Fachleuten zur Überbewertung künstlicher Intelligenz im Unterricht lässt allerdings nicht auf sich warten. Übereinstimmend halten die fünf fest, dass noch so raffinierte Lernprogramme nur eine Hilfsfunktion haben und niemals im Zentrum des pädagogischen Geschehens stehen dürfen. Weder kann ein Roboter Begeisterungsfähigkeit ausstrahlen noch eine Vorbildfunktion übernehmen. Letztlich geht es um die Frage des Menschenbilds, welches hinter den pädagogischen Möglichkeiten künstlicher Intelligenz steht. Da scheiden sich zweifellos die Geister.
Die meisten Presseberichte aus dem Schulbereich der letzten zwei Wochen befassten sich mit den Einschränkungen des Schullebens durch die Corona-Krise. Wir haben uns auf ein Interview mit Stadtrat Filippo Leutenegger beschränkt, um nicht die ganze Thematik mit dem Für und Wider von Schutzmassnahmen erneut aufrollen zu müssen.
Das Schlussbouquet von Konrad Kuoni zur umstrittenen KV-Reform enthält die ganze leidige Geschichte der Abkehr von einer soliden Allgemeinbildung zu den neu höher bewerteten Handlungskompetenzen. Der Autor zieht nochmals alle Register. Er setzt sich für die Erhaltung der Fachstrukturen und eine sorgfältige Schulung des Denkens in der KV-Ausbildung ein. Da stimmen wir ihm gerne zu.
Wir hoffen, dass Ihnen dieser Newsletter eine anregende Lektüre bietet und wünschen Ihnen dabei viel Vergnügen.
Redaktion Starke Volksschule Zürich
Hanspeter Amstutz