Textverständnis als zentraler Zugang zum Leben
Bei der Lesekompetenz unserer Schulabgänger sieht es nicht rosig aus. Ein Viertel von ihnen ist offensichtlich nicht imstande, den Inhalt einfacher Texte zu verstehen. Die verbreitete Leseschwäche hat dazu geführt, dass Journalisten sich bemühen, mit Vereinfachungen und kurzen Sätzen komplexe Sachverhalte darzustellen. Das ist durchaus ein guter Ansatz, der aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt.
In ihrem aufschlussreichen Beitrag in der NZZ weist Birgit Schmid darauf hin, dass mit der Vereinfachung der Sprache die Ausdrucksmöglichkeiten stark eingeschränkt werden. Das löbliche Ziel, Texte verständlich zu schreiben, bedeute nicht, dass man die Sprache banalisiere und auf einen präzisen Wortschatz verzichte.
Die Ursachen für das schwache Leseverständnis vieler Jugendlicher sind zweifellos vielfältig und liegen teils auch ausserhalb des Einflussbereichs der Schule. Doch es ist nicht zu übersehen, dass trendige didaktische Konzepte wie selbstorganisiertes Lernen oder der Verzicht auf systematisches Sprachtraining vor allem schwächere Schüler erheblich verunsichern. Dazu führt die massive Ausweitung der Kompetenzziele zu mehr Oberflächlichkeit bei den Lernprozessen.
Wie Carl Bossard in seinem feinsinnigen Beitrag über verstehendes Lernen schreibt, muss im Unterricht mehr Zeit für das Erkennen wesentlicher Zusammenhänge eingeräumt werden. Dabei spielt es im Rahmen des verbindlichen Lehrplanauftrags keine Rolle, wo ein Lehrer besondere Akzente setzen möchte, um mit seiner Klasse auf schulische Entdeckungsreisen zu gehen. Da hat auch das römische Zahlensystem durchaus Platz, wenn es in den Kontext einer Kulturvermittlung passt.
Tägliches Üben und das Klären von Sachverhalten sind unerlässlich
Carl Bossard erinnert daran, dass beharrliches Üben und Festigen Teil eines erfolgreichen Lernprozesses sind. Anstrengendes Trainieren kann mit einer Tour auf einen Berggipfel verglichen werden. Das Grundgefühl auf dem Berggipfel beim Blick in die Weite und hinab auf den Wanderweg ist ein ganz anderes als nach einer bequemen Fahrt mit der Seilbahn.
Die Lehrplangestalter wissen durchaus um die positive Bedeutung des Leistungsgedankens. Doch sie versuchen diesen in erster Linie über ein Steuerungssystem mit Standards und Tests und weniger über die freie Gestaltungskraft der Lehrerinnen und Lehrer zu fördern. Doch genau dieses Vertrauen ist nötig, damit Lehrpersonen täglich in ausgewählten Themenbereichen gründlich das Feld beackern und die Saat des Nachdenkens ausstreuen.
Vertieftes Lernen ist Voraussetzung für die Ausweitung des Grundwortschatzes zur Verbesserung des Leseverständnisses. Lehrpersonen, die bei einem Realienthema Begeisterung wecken, Emotionales mit einbeziehen und Dinge klären, können aus Worten anschauliche Begriffe formen. Diese Schlüsselwörter sind es, welche weit mehr Wirkung für das Verstehen eines Textes erzielen als die viel gepriesenen Lesestrategien. Mit jedem Thema, das in einer spannenden Lektion die Herzen und Köpfe der Jugendlichen erreicht, wird Interesse für ein Stück Welt und dessen sprachliche Gestalt geweckt.
Die falsch aufgegleiste KV-Reform löst heftige Reaktionen aus
Erfreulich ist, dass der Wert des vertieften Lernens wieder vermehrt erkannt wird.
So protestiert der Schweizerische Bankierverband energisch gegen die auch von uns im letzten Newsletter angeprangerte Reform der KV-Ausbildung. Ganz schlecht goutiert wird der Abbau an Grundlagenwissen im Deutsch und im Bereich von Wirtschaft und Recht. Offensichtlich haben die Banken erkannt, dass das oberflächliche Einüben von sprachlichen Rollen einen systematischen Sprachaufbau noch lange nicht ersetzen kann.
Schade ist nur, dass von der Bankenseite nur die KV-Reform kritisiert wird und parallele Fehlentwicklungen in der Volksschule offenbar kaum beunruhigen. Der heftige Protest der Banken könnte aber durchaus ein Signal für eine kritischere Haltung gegenüber unausgegorenen Schulreformen sein. In unserem Newsletter finden Sie mehrere Beiträge, welche sich sehr kritisch mit der geplanten Reform auseinandersetzen.
Widerstand gegen Salamitaktik bei den Stadtzürcher Tagesschulen
Vor einem Monat haben wir über das geplante flächendeckende Zürcher Tagesschulmodell berichtet und einen Aufruf zugunsten einer längeren Mittagspause für die Kinder unterstützt. Wie die neuste Entwicklung zeigt, werden Abmeldungen für Kinder, die über Mittag im Kreis der Familie essen möchten, immer komplizierter. Gezielt wird ein sanfter Druck aufgebaut, um möglichst alle Kinder an die schulinternen Mittagstische holen zu können. Zudem sollen die Tagesschulen mit zusätzlichen Betreuungsangeboten so weit ausgebaut werden, dass alle Kinder den ganzen Tag in der Obhut der Schule bleiben können.
Leider verfolgen gewisse Kreise mit dem erweiterten Tagesschulmodell offenbar extreme gesellschaftspolitische Ziele. Wer als Politiker sich abschätzig über das gemeinsame Essen im Kreis der Familie äussert und die Anliegen einer Minderheit arrogant übergeht, muss sich über einen starken Widerstand nicht wundern. Diese Salamitaktik der fortschreitenden Ausweitung der Betreuung weit über den Schulbetrieb hinaus kommt im Beitrag von Lena Schenkel nicht gut weg.
Fundierte Beiträge zur Bedeutung der Rolle der Erzieherinnen und Erzieher
Wenn Sie gerne Erziehungsfragen mit philosophischen Gedanken verbinden, kommen Sie im Beitrag von Peter Aebersold über eine Streitschrift der Genfer Philosphin Jeanne Hersch über die antiautoritäre Erziehung aus dem Jahr 1982 voll auf Ihre Rechnung. Die mutige Philosophin nimmt darin Stellung gegen die pädagogisch nicht haltbare Vorstellung einer Gleichheit zwischen Lehrpersonen und Schülern. Weniger kämpferisch, aber durchaus passend zu dieser Streitschrift ist Margrit Stamms Analyse über die Bedeutung alter Tugenden für den Schulerfolg. Die Autorin hebt den positiven erzieherischen Einfluss der Eltern für eine gesunde Entwicklung der Kinder hervor. Das ist zwar nicht neu, aber es tut gut, dieses Bekenntnis einer anerkannten Wissenschafterin so deutlich zu hören.
Gönnen Sie sich Zeit für die spannende Lektüre und bilden Sie sich ihr Urteil.
Redaktion Starke Volksschule Zürich
Hanspeter Amstutz