Vor lauter Problemen nicht die Bodenhaftung verlieren
13.3.2021, Marianne Wüthrich
Eine ganze Reihe pädagogischer Fragen kommt im vorliegenden Newsletter zur Sprache.
Damit wir vor lauter Problemen nicht die Bodenhaftung verlieren, tut es manchmal ganz gut, daran erinnert zu werden, dass viele Kinder auf der Welt ganz andere Sorgen haben. Zum Beispiel lesen wir im Artikel «Die Mädchen von Jahangirpuri», dass in Indien Hunderttausenden von Jugendlichen seit einem Jahr nicht einmal ein Handy zur Verfügung steht, über das sie mit ihrer Lehrerin in Verbindung bleiben und ab und zu am Fernunterricht teilnehmen könnten. So verlieren Abermillionen von Kindern und Jugendlichen in vielen Ländern den Anschluss und sind gezwungen, mit einer rudimentären Schulbildung ins Leben zu gehen.
Dieser Bericht aus Indien oder auch die anschliessende berührende Schilderung einer 12-Jährigen in Ägypten, die sich ihrer jüngeren Mitschüler annimmt und ihnen Unterricht erteilt, eignen sich beispielsweise gut als Ausgangspunkt für ein Klassengespräch.
Lesenswertes aus der Feder gestandener Pädagogen
Im spannenden und inhaltsreichen Gespräch mit Alain Pichard räumt Roland Reichenbach mit einigen bei uns verbreiteten plakativen Vorstellungen auf, die er bei seinen Aufenthalten in Südkorea überdenken konnte. So benennt er es als «Ausdruck einer uninformierten Haltung», wenn man Auswendiglernen und Kreativität als Gegensatz sieht, denn «ohne Auswendiglernen sind weder die Kulturtechniken zu erwerben noch diese kreativ zu nutzen.» Dem Vorurteil, die südkoreanische Jugend würde unter ständigem Stress und Leistungsdruck stehen, setzt er die Tugenden der koreanischen Erziehung entgegen, unter anderem die Anerkennung der älteren Generationen als Autoritätspersonen. – Aber lesen Sie selbst.
Carl Bossard erweitert diesmal das unerlässliche Band der Beziehung zwischen Lehrerin und Schüler, das er mit seiner bekannten und geschätzten Beharrlichkeit auf vielfältige Weise mit Inhalt füllt, zur «gemeinsamen Wirkkraft» des Kollegiums, die von der Schulleitung zu bündeln ist – wäre, ist zu ergänzen. Vielerorts gibt es heute unerfreuliche Erfahrungen von Lehrkräften mit ihren Schulleitungen, welche an erster Stelle dem Auftrag der Bildungsinstitutionen nachkommen, Lernlandschaften und individualisierte Lernformen durchzudrücken statt den vom Lehrer geführten Klassenunterricht zu unterstützen.
Zur weiteren Auseinandersetzung mit den verheerenden Auswirkungen der Digitalisierung auf die Schulkinder und mit dem dahinterstehenden Milliardengeschäft regen der Artikel «Erziehung in Zeiten der Digitalisierung“ sowie eine Buchempfehlung an.
Einen Farbtupfer setzt der Werbefachmann und Vater Dennis Lück in die pädagogische Landschaft. Er freut sich trotz Schul-Einschränkungen in Zeiten der Pandemie über die konstruktiven Aktivitäten seiner drei Kinder («Die verlorene Generation hat ziemlich viel gelernt»). Die Bejahung und Unterstützung des positiven Tuns durch den Vater oder die Mutter ist auf jeden Fall eine gute Sache für den Weg seiner Kinder ins Leben.
Warum sollen Kinder nicht Mathe lernen können?
Dagegen geben die Irrwege unserer Volksschule weiterhin Anlass zu grösster Sorge. Ihre Lehrpläne und Lehrmittel, aber auch die Ausbildung der Junglehrer zu Coachs, haben schon vor Corona nicht die Gewähr geboten, dass unsere Jugendlichen die Schule mit dem grundlegenden Wissen und den Fertigkeiten verlassen, die sie für ihre Zukunft als Berufsleute, Bürgerinnen und Eltern benötigen.
Warum sollten beispielsweise nicht alle Mädchen und Buben rechnen lernen und die Zusammenhänge von Sätzliaufgaben verstehen können? Das Geheimnis eines tauglichen Mathematikunterrichts ist nicht so schwierig: Die Lehrerin muss das Fach in einem strukturierten Aufbau unterrichten und sich vergewissern, dass die Kinder Schritt für Schritt nachvollziehen können und dass jeder Lernschritt sitzt. Dazu ist üben, üben, üben unerlässlich. Es tut mir leid, dass ich dem Fachdidaktiker im Artikel «Oh nein, Mathematik» widersprechen muss: Seine richtige Feststellung, dass «die Inhalte stark aufeinander aufbauen», ergänzt er merkwürdigerweise so: «Durch diese hierarchische Struktur geht es schnell, dass man nichts mehr versteht. Der Wissensunterschied zwischen Lehrperson und Schülern, selbst von höheren zu niedrigeren Jahrgangsstufen, ist da besonders gross.» Dabei ist es ja gerade die Aufgabe des Lehrers, seine Schüler dort abzuholen, wo sie stehen, und ihnen die Zuversicht zu vermitteln, dass sie auch die nächsten Schritte verstehen können. Und: Hoffentlich ist der Wissensunterschied zwischen Lehrerin und Schülern gross! Diese Tatsache ist – kurz gesagt – die Voraussetzung jeder menschlichen Entwicklung vom Neugeborenen zum Erwachsenen.
Damit sind wir bei den grundsätzlichen Mängeln des Lehrplan 21 angelangt. Der Mathematikdidaktiker behauptet, das «Hin-und-her-Switchen zwischen Mathematik und Welt», das auch im Lehrplan 21 verankert sei, mache Mathematik «viel fassbarer.» Ganz im Gegenteil! Es ist längst erhärtet, dass zu viel «Hin-und-her-Switchen» den Schülern die Köpfe verwirrt. Und wie Professor Kühnel im anschliessenden Beitrag darauf hinweist, können auch allzu umfangreiche Textaufgaben, die vom in Frage stehenden mathematischen Problem wegführen, die Köpfe verwirren, und zwar nicht nur bei den fremdsprachigen Schülern.
Konstrukt des Lehrplan 21 ist im Grundsatz falsch
Dass immer mehr Erwachsene in der Schweiz die Schule ohne die notwendigen Grundlagenkenntnisse verlassen, hat mit Corona nichts zu tun, sondern war schon vorher Realität. 15 Prozent der Erwachsenen in der Schweiz können nicht lesen und schreiben, lesen wir im letzten Artikel unserer Sammlung. Und zwar nicht nur Migrantinnen und Migranten: «Zu zwei Dritteln sind es nach Angaben der (Zürcher) Bildungsdirektion Menschen, die in der Schweiz die gesamte Volksschule durchlaufen haben und dennoch die schulischen Grundkompetenzen nicht beherrschen.»
Darüber können wir Bürgerinnen und erst recht die Zürcher Bildungsdirektion nicht einfach hinweggehen. Jetzt heisst es, Farbe zu bekennen. Denn das Konstrukt des Lehrplan 21, der in unseren Volksschulen gilt, ist im Grundsatz falsch. Dessen Macher gingen davon aus, für Schulkinder sei es eine Zumutung, wenn der Lehrer den Lernstoff in einem strukturierten Aufbau unterrichtet, wenn sie sich mathematische Formeln oder Regeln der Rechtschreibung oder der Grammatik einprägen sollten, wenn in der Schule auswendig gelernt und repetiert wird, wenn sie sich eine sorgfältige Handschrift aneignen, und, und, und. Stattdessen soll jedes Kind nach seinen individuellen Bedürfnissen sogenannt «selbstorganisiert» lernen.
Die Einführung dieses untauglichen und für den Lernweg vieler Kinder schädlichen Lehrplans rächt sich nun. Es ist ja schön und gut, wenn der Zürcher Kantonsrat für Erwachsene mit schweren Sprachdefiziten Geld für «Lernstuben» bewilligt. Aber ich schliesse mich ganz der Bemerkung von Kantonsrat Marc Bourgeois an, damit würden «lediglich Reparaturarbeiten ausgeführt». Stattdessen müsse auch in den Volksschulen angesetzt werden: «Es ist ein Armutszeugnis für unsere Schulen, wenn so viele Menschen die Lernziele nicht erreichen.»
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.
Redaktion Starke Volksschule Zürich
Marianne Wüthrich