Hoher Preis für schulische Fehlkonzepte
Die schulpolitischen Inhalte unseres aktuellen Newsletters könnten gegensätzlicher nicht sein. Wir beginnen mit dem Erfreulichen in unserer Volksschule. Markus Tschannen, ein freischaffender Autor und Vater eines Primarschülers, erinnert daran, wie viel Einsatz unsere gut entlöhnten Lehrerinnen und Lehrer jeden Tag leisten, um den Kindern gerecht zu werden. Zu Recht hält er uns vor Augen, wie gut unsere Volksschule von fast allen Gesellschaftsschichten mitgetragen wird und wie im Vergleich zu anderen Ländern die Rahmenbedingungen fürs Unterrichten bei uns ausgezeichnet sind. Tschannens Beitrag ist ein Lob auf die starken Seiten unseres Bildungssystems, das nach wie vor einen hohen Standard aufweist. Doch der Text überdeckt, dass in der Realität einiges aus dem Ruder gelaufen ist.
Unser Land, das nach Luxemburg europaweit die höchsten Bildungsausgaben pro Kopf der Bevölkerung aufweist, muss sich fragen, weshalb es in einigen Bildungsbereichen alles andere als erstklassig ist. Ein Fünftel unserer Schulabgänger ist nicht imstand, einfachste Texte zu verstehen und fast die Hälfte tut sich schwer mit anspruchsvolleren Beiträgen. Das sind nur zwei der unerfreulichen Tatsachen, über die man nicht einfach hinwegsehen kann. Wir stellen die aktuellen Herausforderungen deshalb zur Diskussion.
Basler Lehrpersonen fordern mehr Klarheit bei den Bildungszielen
Welchen Nutzen bringt ein Lehrplan mit 2300 ausformulierten Kompetenzstufen den Lehrpersonen bei der Unterrichtsplanung? Diese Frage haben sich offenbar viele Schulpraktiker in der Nordwestschweiz gestellt und es genauer wissen wollen. In einer Umfrage der Starken Schule beider Basel stellte sich heraus, dass der monumentale neue Lehrplan in der Praxis kaum Beachtung findet. Um sich rascher orientieren zu können fordern die Lehrerinnen und Lehrer einen handlichen Lehrplanteil A mit klaren Inhalten und kurzen Beschreibungen der Bildungsziele in jedem Fach. Dieser Hauptteil soll dem komplizierten Teil B mit den seitenlangen Kompetenzbeschreibungen vorangestellt werden. Damit würde wohl still und heimlich ein Paradigmenwechsel vom viel gerühmten Kompetenzenmodell zu einem inhaltsorientierten Lehrplan vollzogen.
Wenn sich schon nach einem Jahr zeigt, dass der Lehrplan seine Hauptfunktion als Kompass für die mittelfristige Bildungsplanung nicht erfüllen kann, dann ist etwas ganz schief gelaufen. Der neue Lehrplan mag zwar eine Fundgrube für Erziehungswissenschafter und Lehrmittelproduzenten sein, aber mit seiner unübersichtlichen Vielfalt gelingt es ihm nicht, Klarheit bei den Bildungszielen zu vermitteln. Was nützt ein Lehrplan, dem die Strahlkraft verbindlicher Bildungsziele fehlt? Die überdurchschnittlich regsame Baselbieter Lehrerschaft hat als erste laut ausgesprochen, was sonst meistens nur hinter vorgehaltener Hand kritisiert wurde. Man kann davon ausgehen, dass nun in anderen Kantonen ähnliche Forderungen erhoben werden.
Scharfe Kritik am ineffizienten frühen Mehrsprachenlernen
Schon sehr viel länger gärt es in der Lehrerschaft beim überzogenen Sprachenkonzept der Primarschule. Eigentlich ist den meisten Bildungsverantwortlichen klar, dass das frühe schulische Lernen dreier Sprachen kein Erfolgsmodell ist und stark schädigende Nebenwirkungen in anderen Fächern hat. Doch die Bildungspolitik hat sich in dieser Frage dermassen in eine Sackgasse manövriert, dass ihre Repräsentanten ohne Gesichtsverlust nicht mehr herauskommen werden. Entsprechend wird am Konzept herumgeschraubt und immer neue finanzielle Mittel werden bewilligt, nur um das berühmte Ende mit Schrecken zu vermeiden.
Offensichtlich scheint nun aber das Fass zu überlaufen. Mit ungewöhnlich scharfen Worten geisselt ein Lehrer und Familienvater den ineffizienten frühen Französischunterricht seines Sohnes. Sicher spielt dabei eine Rolle, dass in der Nordwestschweiz mit dem Lehrmittel Mille feuilles auch noch ein ziemlich chaotisches Didaktikkonzept gewählt wurde. Die Misere liegt aber tiefer. Es ist die irrige Vorstellung, dass der frühen schulischen Mehrsprachigkeit Tür und Tor geöffnet werden müssten, um Kindern vorzeitig den Eintritt ins Zeitalter der weltweiten Kommunikation zu ermöglichen. Was dabei in anderen Fächern an grundlegendem Wissen verloren ging, kümmerte die Lehrplanverantwortlichen wenig. Statt Bildung auf das Wesentliche zu konzentrieren, wurde fast der ganze Wunschkatalog an erstrebenswerten Kompetenzen beibehalten. Nun stellt sich heraus, dass der Preis für dieses Fehlkonzept mit einer erheblichen Verwässerung der Bildungsziele verknüpft ist.
Ist das humanistische Bildungsideal überholt?
Einige Wellen werfen dürfte auch der NZZ-Beitrag von Toni Stadler über das von ihm kritisierte humanistische Bildungsideal. Der Autor und Naturwissenschafter kritisiert einen veralteten Bildungskanon an manchen Universitäten. Er fordert ein zeitgemässeres Bildungsideal und mehr zweckgerichtete Bildung. Ziel der universitären Bildung müsse es sein, als urteilsfähige Persönlichkeit das Weltbild regelmässig an den neusten Wissensstand anpassen zu können. Da fragt man sich unweigerlich, wie nach Stadlers Vorstellungen denn der Lehrplan der Volksschule umgestaltet werden müsste.
Plädoyers für pädagogische Standhaftigkeit und gerechtere Bubenpädagogik
Wenn Sie genug von Schulpolitik haben, empfehlen wir Ihnen unsere drei lesenswerten Beiträge über praktische Erziehungsfragen. Da ist einmal der wunderbare Bericht von Eliane Perret über eine standhafte Mutter, die ihren Sprössling mit viel Liebe und Geduld an den verführerischen Gestellen eines Verkaufsladens vorbeiführt. Dann erklären uns Martin Beglinger und Margrit Stamm, warum richtig verstandene Autorität in der Erziehung überhaupt nicht ausgedient hat. Beide weisen darauf hin, dass Kinder letztlich froh sind, wenn Lehrerinnen und Erzieher über eine verlässliche Festigkeit verfügen. Fehlt diese, stösst jeder Erziehende bald einmal an seine Grenzen. Eigentlich sind dies keine umwerfenden Erkenntnisse, doch im Hinblick auf all die verunglückten antiautoritären Experimente sind die erneuerten Grundregeln sehr hilfreich.
Gar nicht mehr selbstverständlich ist auch die Aussage, dass Buben anders ticken als Mädchen. Wie die amerikanische Autorin Peggy Orenstein schreibt, drohen Buben heute emotional zu verkümmern, weil ihr Zugang zu den eigenen Gefühlen durch falsche Vorstelllungen über Männlichkeit blockiert ist. In der Schule wiederum wird mit dem sprachenlastigen Bildungsprogramm dem ausgeprägten Sachinteresse vieler Buben zu wenig Rechnung getragen.
Fazit der schulischen Integration in den USA
Den Schlusspunkt unseres Newsletters bildet ein Blick des Bildungshistorikers Peter Aebersold auf die Integrationsbemühungen seit den Siebzigerjahren in den USA. Man wird dabei den Eindruck nicht los, dass gewisse Fehler zuerst jenseits des Atlantiks gemacht wurden, bevor wir sie selber bei uns ausprobieren. Doch schauen Sie selbst und bilden Sie Ihr eigenes Urteil beim Lesen all der gegensätzlichen Standpunkte in unserem etwas aussergewöhnlichen Newsletter.
Redaktion Starke Volksschule Zürich
Hanspeter Amstutz