Kinder brauchen Struktur und Stimulation
Der Platz im Zentrum dieses Newsletters gebührt dem Interview mit dem Neuropsychologen Lutz Jäncke, der die Grundlagen des menschlichen Lernens in erfrischender Weise, aber dennoch tiefernst, darlegt. Zunächst stellt er klar, dass Fernunterricht und Homeoffice auf die Dauer nicht zuträglich sind, weil der Mensch «ein Sozialtier» ist und den direkten Kontakt «wie die Butter aufs Brot» braucht. Für Kinder und Jugendliche gilt das natürlich in weit stärkerem Mass, denn «Kinder brauchen Struktur und Stimulation», je jünger, desto mehr. Ausgehend von der Sozialnatur des Menschen, nimmt Jäncke eine deutlich kritische Position gegenüber dem Lehrplan 21 ein, der «offenbar von Theoretikern entworfen» worden sei. Wer von Kindern und Jugendlichen verlange, dass sie sich selbst ihre Lernziele setzen und den Stoff aneignen, «setzt sich über die Erkenntnisse der Hirnforschung und Lernpsychologie hinweg», so Jäncke. Ganz einfach, nicht wahr? Aber nicht jeder Zürcher Uni-Professor bringt die Einsicht und den Mut zu einer so klaren Stellungnahme auf.
Gleich drei erfahrene Pädagogen unterstützen in der darauffolgenden Ausgabe der Sonntagszeitung die Stellungnahme von Professor Jäncke. Sie verdeutlichen die Untauglichkeit der LP 21-Methoden, vor allem des «selbstorganisierten Lernens», aufgrund ihrer langjährigen beruflichen Erfahrung und ihres Menschenbildes und fordern Schulpflegen und Lehrerschaft dazu auf, sich wieder für den vom Lehrer geleiteten Unterricht im Klassenverband einzusetzen, in dem es am besten möglich ist, alle Kinder zu fördern. Ergänzt werden die Leserbriefe durch den Aufruf von Kantonsrat Matthias Hauser zur Wiedereinführung der Kleinklassen, damit in allen Klassen wieder ein ruhiges Lernklima möglich ist.
Lernen ist kein Sonntagsspaziergang
Den Leitartikel unseres Newsletters steuert einmal mehr unser unermüdlicher Mitkämpfer Carl Bossard bei. Mit der herzigen Bärengeschichte von Max Bolliger erinnert er daran, dass Lernen kein Sonntagsspaziergang, sondern ein anstrengender Prozess ist, der oft nur mit Ausdauer und mit noch einmal und noch einmal Probieren gelingen kann. Aber wieviel mehr Freude und Genugtuung erlebt der junge Mensch, wenn er dann durch eigene Anstrengung, angeleitet vom fördernden und fordernden Lehrer, oben auf dem Berg steht.
Weniger erfreulich ist die Bestandesaufnahme von Urs Kalberer in Bezug auf die sinkende Lesefähigkeit der Schweizer Schülerinnen und Schüler. Statt Unmengen von Lernzeit auf fragwürdige Lesetrainings-Methoden zu vergeuden, würde man sie viel gescheiter für den Erwerb von Sachwissen und für eine stetige Erweiterung des Wortschatzes einsetzen. Also lesen, lesen, lesen, schreiben und korrigieren, und so weiter. Jedes Kind, so hält Urs richtig fest, hat ein Anrecht darauf, in den neun Jahren an der Volksschule genügend lesen zu lernen, um danach eine Chance im Berufsleben zu haben (Chancengleichheit nannte man das früher). Wer Urs Kalberers ausgezeichnetes Referat am 5. März zum Thema «Deutsche Sprache als Grundlage allen Lernens» am Vortrags- und Diskussionsabend des Vereins «Starke Volksschule Zürich» gehört hat, erlebt bei der Lektüre ein déjà vu beziehungsweise déjà entendu.
Zürcher Schulgeschichte und digitale Gegenwart
Ein Stück Schulgeschichte, das jedem demokratieliebenden Schweizer zu denken geben muss, trägt Peter Aebersold mit seinem Bogen von der Entstehung der Zürcher Volksschule zur Zeit der Regeneration (1831) bis zu den Schulreformen ab den Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, mit denen nicht nur die gute Schulbildung heruntergefahren, sondern auch sukzessive das demokratische Fundament abgeschafft wurde. Gerade für die Jüngeren unter unseren Lesern wird einiges neu sein, haben sie doch die Volkswahl von Lehrern und Schulpflegern gar nicht mehr miterlebt.
Nach diesem Rückblick in die Zürcher Schulgeschichte landen wir wieder in der Gegenwart. Auf verschiedene Berichte zum Fernunterricht auf Gymi- und Hochschulstufe – und wie es bis zu den Sommerferien weitergehen soll – folgt das gut begründete Plädoyer von Prof. em. Franz Eberle für das Beibehalten der Maturitätsprüfungen. Interessant auch der Erfahrungsbericht eines Studenten in 20Minuten: Natürlich kommt er besser zurecht mit der Erarbeitung des Stoffs auf digitalem Weg als die Volksschüler. Aber auch ihm fehlt der direkte Kontakt und Austausch mit den Dozenten und Mitstudenten. Und: Er schätzt seinen Lernerfolg allein mit dem Computer als geringer ein als im Präsenzunterricht.
Für die Volksschule gilt dies noch in weit stärkerem Masse. Der heutige Gastbeitrag unseres Redaktionskollegen Hanspeter Amstutz im Tages-Anzeiger bringt es auf den Punkt: «Eine radikale Umstellung der Schule auf einen hohen Anteil an digitalem Unterricht wäre … unverantwortlich.» Denn: «Wer eine starke Schule will, muss alles daransetzen, dass die Lehrerinnen und Lehrer der Vorbereitung eines lebendigen Präsenzunterrichts erste Priorität einräumen können.» Zu wünschen ist unserer Jugend und unserem Land, dass sich diese pädagogische Zielsetzung der Schulbildung den Raum verschaffen kann, den sie verdient.
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Für die Redaktion «Starke Volksschule Zürich»
Marianne Wüthrich