Grundlegende Bildungsinhalte haben kein Verfallsdatum
Schulischer Notbetrieb hat die Sicht auf den Unterricht verändert
Die Coronakrise hat unser Bildungssystem ganz schön durchgeschüttelt. Fast von einem Tag auf den andern musste der Unterricht völlig umgestellt werden. In den Schulhäusern war kein Kinderlärm mehr zu hören, dafür wurden Stuben und Esszimmer zu kleinen Lernzentren. Mütter kümmerten sich ganz direkt um den Schulstoff und bemühten sich, die Lernmotivation ihrer Sprösslinge hochzuhalten. Improvisation war in allen Bereichen gefragt. Die Lehrerinnen und Lehrer sorgten mit Lernpaketen und digitaler Post, dass die Schüler jeweils genug Stoff für eine Woche hatten. In Videokonferenzen mit ihrer Schulklasse und persönlichen Telefonanrufen waren die Lehrpersonen unermüdlich beschäftigt, den Kontakt zu ihren Schülern aufrechtzuerhalten. Der schulische Notbetrieb liess viele bewusst werden, was es alles braucht, um guten Unterricht zu ermöglichen.
Sehnsüchtig erwarteter Wiedereinstieg in den realen Klassenunterricht
Doch nun ist diese Zeit des Fernunterrichts vorbei. Wohl noch nie waren die Kinder so froh, wieder die Schule besuchen zu können. Im Kanton Zürich ist die Normalität zwar erst eingeschränkt wieder eingekehrt. Mädchen und Buben sitzen in grossem Abstand zueinander an Einzelpulten und werden in Halbklassen unterrichtet. Aber sie freuen sich, dass sie wieder in einer lebendigen Gemeinschaft Neues entdecken dürfen.
Die Rückkehr der Kinder in die Schulhäuser wurde von der Presse vielerorts mitverfolgt und kommentiert. „Ich bin froh, dass es jetzt wieder richtig losgeht, denn ich vermisste unsere Klasse sehr“, war wohl einer der am häufigsten gehörten Sätze in den Schülerinterviews. Und wer sich genauer umgehört hat, kommt zum Schluss, dass die allermeisten auch ihre Lehrerin oder ihren Lehrer sehr vermisst haben.
Wenn Sie Lust haben, den Wiedereinstieg ins Schulleben nochmals Revue passieren zu lassen, dann finden Sie in unserem Newsletter einige aufschlussreiche Berichte aus Schulen im Oberland und der Stadt Zürich.
Vorschnelle Forderungen für einen sofortigen Digitalisierungsschub
Der Drang mancher Journalisten, jetzt eine Bilanz über die Zeit des Fernunterrichts zu ziehen, tritt in vielen Kommentaren offen zutage. Einige Redaktoren sind ernüchtert, dass der ferngesteuerte Unterricht trotz des Einsatzes modernster digitaler Technik selbst bei medienvertrauten Jugendlichen mit der Zeit ermüdend wirkte und das reale Klassenzimmer nicht vergessen liess. Andere hingegen fordern, dass die Schule nun einen sofortigen digitalen Sprung nach vorn machen müsse. Eine Schule, die diesen Schritt nicht mutig wage, stehe auf der Verliererseite. Die digitale Bildungsindustrie wittert als Folge von Corona klare Morgenluft.
Methodische Konstanz als wichtiger Erfolgsfaktor
Mit der Frage, was die Schule nach der Coronakrise nun wirklich brauche, hat sich auch Carl Bossard in unserem Leitartikel auseinandergesetzt. Und wie! Der Autor zeigt auf, dass eine gute Schule eine Balance zwischen innovativer Erneuerung und dem Festhalten an bewährten Lerntechniken finden müsse. Während mehr als zweier Jahrzehnte ist unsere Volksschule dem Zeitgeist des stürmischen Erneuerns und Umbauens gefolgt, ohne gross Rechenschaft abzuliefern, was denn damit erreicht wurde. Die Dynamik des Modernisierens galt als Garant dafür, dass alles besser würde. Im Bann der ganzen Fortschrittsrhetorik ging völlig vergessen, dass ein grosser Teil der Bildung auf der zeitlosen Konstanz grundlegender Methoden beruht. Der Autor erinnert an Bildungsinhalte ohne Verfallsdatum. Nur wer das Dreisatzschema verstanden hat, wird einen guten Zugang zur Proportionalität finden und diese Kompetenz in verwandten Bereichen erfolgreich anwenden können.
Am Schreibtisch entwickelte Lernkonzepte mussten gestoppt werden
Leider dauerte es ziemlich lange, bis die Götterdämmerung einsetzte. Erst als sich einige der vorschnell hochgejubelten Methoden in der Praxis als fatal herausstellten, begann man Gegensteuer zu geben. Ganze Serien von Fremdsprachenlehrmitteln, die vorgaben, das Eintauchen der Schüler in ein „Sprachbad“ könne einen systematischen sprachlichen Aufbau weitgehend ersetzen, mussten völlig umgearbeitet werden. Pikanterweise wurden bei der Schaffung des geforderten besseren Übungsmaterials ausgerechnet Autorinnen der kritisierten Vorgängerlehrmittel zu Hilfe gerufen. In der Nordwestschweiz aber spitzte sich die Situation bei den Sprachlehrmitteln derart zu, dass am Ende das Volk die Fehlentwicklung an der Urne stoppen musste.
Im Geschichtsunterricht glaubte man spannende Erzählungen der Lehrpersonen durch das angeleitete Studium von Quellentexten ablösen zu müssen. Das Resultat ist ein deprimierendes Desinteresse vieler Jugendlicher am historischen Geschehen. Zwei unserer Beiträge befassen sich mit dieser praxisfremden Entwicklung und fordern einen klaren Kurswechsel. Die überhebliche Vorstellung, die Methodik des Lernens könne federführend von den theoretischen Erziehungswissenschaften her grundlegend verändert werden, hat sich längst als fataler Irrglaube herausgestellt.
Erfolgreiche chinesische Lernkultur als Herausforderung auch für uns?
Auf die Bedeutung der pädagogischen Konstanz weist auch Peter Aebersold in einem aussergewöhnlichen Beitrag über die chinesische Lernkultur hin. Es geht dabei nicht um die dunklen Seiten chinesischer Machtpolitik oder gar um ein Lob für unmenschliche Disziplin. Peter Aebersold deckt vielmehr auf, wie die positive Bewertung von Wille und Fleiss in der konfuzianischen Tradition den Grundstein für die Erfolge Chinas bei der PISA-Studie bildet. Man muss lange nicht mit allem einverstanden sein, aber der Beitrag ist erhellend und regt zum Denken an.
Weitere Denkanstösse und kritische Kommentare finden Sie wie immer in unseren Leserbriefen und in einem Bericht über teure Schulhausneubauten in der Stadt Zürich.
Es ist viel Lesestoff. Treffen Sie einfach eine Auswahl und vertiefen Sie sich in aller Ruhe in eines Ihrer Lieblingsthemen. Sie werden es nicht bereuen.
Für die Redaktion „Starke Volksschule Zürich“
Hanspeter Amstutz
Inhalt
- Grundlegende Bildungsinhalte haben kein Verfallsdatum
24.5.2020, Hanspeter Amstutz - Von den ewig Morgigen
Journal21, 17.5.2020, Carl Bossard - Warum nicht vom Pisa-Sieger China lernen
12.5.2020, Peter Aebersold - Plädoyer für ein eigenständiges Fach Geschichte
Zeit-Fragen 19.5.2020, René Roca - Der Geschichtsunterricht braucht einen kräftigen Anschub
Schweizerzeit 22.5.2020, Hanspeter Amstutz - So erlebten Oberländer Lehrer die Rückkehr an die Schule
Züriost, 11.05.2020, Fabia Bernet - Eine Woche Corona-Schule - die Bilanz
Tages-Anzeiger 16.5.2020, Philippe Reichen, Jacqueline Büchi und Claudia Blumer - Erkenntnisse aus einem sehr privaten Seminar
NZZ am Sonntag 17.5.2020, Meinungen, Gastkolumne von Caspar Hirschi - Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm zu den guten Seiten der passiven Zeit – auch nach dem Lockdown
Galler Tagblatt, 11.5. 2020 - Detroiter Schulen werden nach Klage unterstützt
NZZ 16.5.2020, International - Maturaprüfung ist nötig
NZZ 11.5.2020, Meinung & Debatte, Leserbriefe - Flickenteppich
NZZ, 14.5.2020, Meinung & Debatte, Leserbrief - Übertriebene Schulhausbauten und eine drohende Ausweitung der Genderdebatte
Zürcher Bote 15.5.2020, Städte Zürich und Winterthur, Johann Widmer