Wer hat noch den Blick aufs Wesentliche?
In der Volksschule wird auf zu vielen Hochzeiten getanzt
Können Sie spontan Bildungsziele nennen, denen wir alles unterordnen, damit sie tatsächlich erreicht werden? In der Flut der bunten Zielsetzungen beim aktuellen Fächerkatalog dürfte dies wahrscheinlich nicht einfach sein. Von grossen Bildungszielen müsste eine weitreichende Strahlkraft ausgehen, die klare Prioritäten schafft. Der souveräne Umgang mit der deutschen Sprache wäre so ein lohnenswertes Ziel, das eine Vorrangstellung rechtfertigen würde.
Spätestens seit dem schlechten Abschneiden unserer Schüler bei der Lesekompetenz im PISA-Test stellt sich die Frage, ob wir die Schwerpunkte in unserem Bildungssystem richtig gesetzt haben. Längst haben wir uns an eine Innovationsrhetorik gewöhnt, die uns glauben lässt, die Schule könne auf breitester Front fast alles erreichen. Früh zwei Fremdsprachen und die deutsche Hochsprache gleichzeitig zu vermitteln, schaffe die Schule dank moderner Didaktik bestens. Einen frühen Einstieg in die spannenden Naturwissenschaften, den klugen Umgang mit dem vielfältigen Angebot im Internet und mehr Souveränität bei der Mediennutzung würden unsere aufgeweckten Schüler ohne Weiteres bewältigen.
Verschwiegenes Dilemma zwischen Wunschbild und Realität
Von den Lehrpersonen wird erwartet, dass sie neben der Erfüllung des vollen Wunschprogramms auch den Anforderungen an die Bildungsgerechtigkeit nachkommen. Stark verhaltensauffällige Schüler sollen in die Regelklassen integriert werden, damit jeder Anschein von Ausgrenzung vermieden werden kann. Immer mehr wird auch davon ausgegangen, dass Schüler ein Recht auf ein massgeschneidertes individuelles Lernprogramm haben. Wie dabei ein gut verständliches Notensystem aussehen könnte, steht hingegen noch in den Sternen.
Das Idealbild einer Schule, die den ganzen Wunschkatalog erfüllen soll, überstrahlt in Schulleitbildern und Presseberichten den weniger schönen Istzustand in fast unerträglicher Weise. Lehrerinnen und Lehrer, die ehrlich auf das Dilemma zwischen Bildungsversprechungen und der Schulrealität hinweisen, werden rasch schräg angeschaut. Also schweigen sie lieber.
Angst vor Abstrichen beim randvollen Bildungsprogramm
Wie Carl Bossard in unserem Leitartikel schreibt, wäre es Sache des Schweizerischen Lehrerverbands, die Frage nach dem Wesentlichen in der Bildung mit aller Deutlichkeit zu stellen. Doch darauf wartet man vergebens. Es bräuchte einigen Mut zu sagen, wo beim Bildungsprogramm Abstriche gemacht werden müssten, um dem Wesentlichen wieder Platz zu geben. Lieber befasst man sich mit Studien zu Reformprojekten in einzelnen Fächern oder stellt Forderungen nach noch mehr finanziellen Mitteln für die ewige Baustelle der schulischen Integration. Es fehlt ganz eindeutig der Blick aufs Ganze.
Von den im Rampenlicht stehenden Bildungspolitikern ist nicht zu erwarten, dass sie eine scharfe Kurskorrektur vornehmen, solange gut begründete Kritik aus der Schulpraxis nur äusserst zögerlich vorgetragen wird. Es besteht für sie kein Grund, das verlockende Bildungsprogramm infrage zu stellen und unpopuläre Einschränkungen zugunsten der schulischen Kernaufgaben zu vertreten. Ähnliches lässt sich auch von dem Teil der Presse sagen, welcher jede schulische Neuerung zum Vornerein mit Applaus begrüsst.
Bessere Deutschförderung braucht deutlich mehr Zeit
Wenn wir nicht länger an Ort treten wollen, müssen Nägel mit Köpfen gemacht werden. Ganz sicher kann die arg in die Kritik geratene Deutschförderung nicht einfach mit ein paar kosmetischen Tricks verbessert werden. Für klar bessere Resultate braucht es mehr Zeit fürs Üben, mehr Kompetenzen der Lehrpersonen im Bereich des Erzählens, mehr Training im schriftlichen Ausdruck in Form von sorgfältig korrigierten Aufsätzen und einen besseren Realienunterricht zur Erweiterung des Wortschatzes. Diese umfangreichen Anforderungen machen klar, dass eine Konzentration aufs Wesentliche nur möglich ist, wenn die Lehrpersonen in anderen Fächern von zu hoch gesteckten Zielen entlastet werden. Längerfristig wird man nicht darum herumkommen, die Zielsetzungen im neuen Lehrplan in grundlegende Anforderungen und fakultative Wunschbereiche zu trennen. Nur so kann Bildung wieder effektiver werden.
Konkret könnte dies beispielsweise heissen, einfachere Ziele bei den frühen Fremdsprachen zu setzen oder die zweite Fremdsprache aus dem verbindlichen Primarschulprogramm zu kippen. Doch für einen Kurswechsel zu einem wirkungsorientierten Schulsystem braucht es deutlichere Botschaften aus den Schulzimmern und einen Schweizer Lehrerverband, der politisch hartnäckiger auftritt.
Erfreulicherweise gibt es ermutigende Zeichen aus einigen Kantonen, dass die Lehrerschaft in schulpraktischen Fragen einiges erreichen kann, wenn mit überzeugenden Argumenten gekämpft wird.
Übereinstimmende Kritik an didaktischen Holzwegen
Dass eine einseitige Lernkultur an unserer Volksschule zu ungenügenden Leistungen beitragen kann, weist Mario Andreotti in seinem erhellenden Beitrag nach. Der Autor macht darauf aufmerksam, dass sich die zunehmende Abwendung vom gemeinsamen Klassenunterricht bei den meisten Schülern ungünstig auswirkt. Statt durch direkte Instruktion eine Sache zu klären und mit gezieltem Üben Grundlagen zu festigen, werden die Schüler mit selbstorganisiertem Lernen überfordert. Die Folgen sind alles andere als harmlos. Vor allem schwächere Schüler verlieren den Mut und neigen zur Vereinzelung, wenn sie zu lange sich selbst überlassen sind. Mario Andreotti fordert deshalb einen lebendigen Kontakt der Schüler zu einer verständnisvollen und kompetenten Lehrperson im Rahmen des täglichen Klassenunterrichts.
Ganz ähnlich tönt es auch in den prägnanten Leserbriefen der vergangenen zwei Wochen. Eine Leserbriefschreiberin stellt fest, dass selbstorganisiertes Lernen allzu häufig zu Ziellosigkeit und grossen stofflichen Defiziten führe. Peter Aebersold erinnert daran, dass das erfolgreiche finnische Schulmodell vor allem auf der hohen Kompetenz der Klassenlehrpersonen beruht, die sich nicht scheuten, mit direkter und anschaulicher Instruktion zu unterrichten.
Liebe Leserinnen und Leser, es fehlt wirklich nicht an eindeutigen Signalen aus der Schulpraxis, was in der Schule geändert werden müsste. Die kritischen Stimmen sind da. Sie finden sie in öffentlichen Stellungnahmen oder in Blogs mit ausgezeichneten Bildungsbeiträgen. Noch sind die Stimmen zu leise, um als Chor wahrgenommen zu werden. Wir sind jedoch überzeugt, dass die pädagogische Götterdämmerung bereits eingesetzt hat. Werfen Sie einen Blick auf unsere Texte und Sie werden sehen, dass Erstaunliches in Bewegung gekommen ist.
Für die Redaktion Starke Volksschule Zürich
Hanspeter Amstutz
Inhalt
- Wer hat noch den Blick aufs Wesentliche?
17.1.2020, Hanspeter Amstutz - Vom pädagogischen Zaubertrunk des Vielen
Journal21, 11.1.2020, Carl Bossard - Wenn die Schule überfordert
Galler Tagblatt, 14.1.2020, Meinung, Gastkommentar von Mario Andreotti - «Der Stoff bleibt auf der Strecke»
Landbote 3.1.2020, Leserbrief - Debakel für die Bildung
NZZ 6.1.2020, Zuschriften - Eine 4-Millionen-Villa für jede Schulklasse
Tagblatt der Stadt Zürich, 15.1.2020, Forum der Parteien, Yasmine Bourgeois - «Schulnoten bilden nicht ab, was noch möglich ist»
Zürichsee-Zeitung 15.1.2020, Region, Susanna Valentin - Dem Französischlehrmittel «Mille Feuilles» droht das Aus
NZZ 8.1.2020, Schweiz, Daniel Gerny - Ex-“Pisa-Sieger” Finnland und der Klassenunterricht
Condorcet Bildungsblog 5. Januar 2020, Peter Aebersold - Veranstaltungshinweise
19. Februar 2020, Ist neu immer besser?
25. März 2020, Der schiefe Turm von Pisa – Schüler und Lehrer im (Test-)Stress