Pisa: Aufregung produzieren oder Konsequenzen ziehen?
Erstaunlich, zu welch weisen Erkenntnissen die neuesten Pisa-Tests führen. Worauf zahlreiche Reformkritiker seit Jahren warnend hinweisen, findet «dank» der erneut ungenügenden Resultate im Leseverstehen plötzlich Widerhall in den Medien. Jeder vierte 15-Jährige verstehe deutsche Texte zu schlecht, um später als eigenständiger Erwachsener im Alltag, im Berufsleben und als mündiger Bürger bestehen zu können. Etwa die Hälfte hat zudem wenig Freude am Lesen: «Ich lese nicht zum Vergnügen». Und was fällt der Zürcher Bildungsdirektorin und EDK-Präsidentin Silvia Steiner dazu ein? «Wir müssen uns fragen, wie es uns gelingt, dass Jugendliche wieder mehr Lust am Lesen bekommen.» In den Kantonen seien bereits Projekte und Konzepte am Laufen, gibt sie laut Tages-Anzeiger zum Besten («Schweizer sind nur Mittelmass»). So, so… Wir Lehrer könnten Ihnen schon sagen, welche Projekte und Konzepte es bräuchte: Freude am Lesen bekommen die Kinder nämlich vor allem beim gemeinsamen Lesen im Klassenverband, zusammen mit einer begeisterten und begeisternden Lehrerin, die über nicht verstandene Ausdrücke oder Sätze nicht hinweggeht, sondern mit ihren Schülern zusammen deren Sinn so erschliesst, dass möglichst alle folgen und ihr Textverständnis damit aufbauen und vertiefen können.
Nichts Neues also – aber jetzt gilt es, Konsequenzen zu ziehen. Denn mit dem selbstorganisierten Abarbeiten von Schmalspur-Lückentexten im Sinne der mageren Deutsch-Lernziele im Lehrplan 21 lernt man weder die deutsche Sprache einigermassen zu beherrschen noch bekommt man Freude daran. Ausser diejenigen Kinder, bei denen zu Hause gelesen und vorgelesen wird – aber die lernen es sowieso.
Apropos Konsequenzen ziehen: Wirklich bemerkenswert, was da so alles im Tagi zu lesen ist: «Jahrelang habe man der Schule viele zusätzliche Aufgaben aufgebürdet – etwa zwei Fremdsprachen auf Primarschulstufe. Dabei sei das Hochdeutsch essenziell für die gesamte Bildungskarriere; hier dürften keine Kompromisse gemacht werden.» So Rudolf Winsch, Bildungsverantwortlicher bei Economiesuisse, bisher eifriger Verfechter aller Schulreformen, vor allem der Volldigitalisierung der Schule. Am selben Tag schreibt Raphaela Birrer im Tagi, wir sollten uns fragen, was in unseren Schulzimmern nicht richtig laufe. «Die Antwort lautet: falsch gelagerte Reformen. Lernschwache Schüler sind heute in die Regelklassen integriert, Klassen werden vergrössert, Lektionen für «Deutsch als Zweitsprache» abgebaut, mehrere Fremdsprachen parallel unterrichtet. Das bringt die Schulen vielerorts an ihre Belastungsgrenzen.» («Der falsche Reformeifer rächt sich») Gerne werden wir unsere Presse und unsere Bildungsverantwortlichen an diese Statements erinnern…
Wenig überzeugend sind die Ideen der neuen LCH-Präsidentin Dagmar Rösler zur Abhilfe: Es herrsche «Handlungsbedarf in den Bereichen Lesekompetenz, Frühförderung, Nutzung digitaler Technologien in der Schule sowie der Begabungs- und Begabtenförderung.» («Pisa-Studie 2019: Schweizer Schüler verschlechtert») Meines Erachtens könnten wir auf Frühförderung problemlos verzichten, wenn wir den Lehrplan und die Lehrerausbildung wieder darauf ausrichten, dass alle Kinder, auch solche mit nichtdeutscher Muttersprache, in der Volksschule lesen und schreiben lernen. In neun Jahren plus zwei Jahren Chindsgi sollte das möglich sein. Der Erwerb von «Lesekompetenz» im Sinne des LP 21 ist, wie oben erläutert, der falsche Weg, und wie die «digitalen Technologien» zu besserem Leseverständnis und zu Freude am Lesen verhelfen sollen, bleibt schleierhaft. Die Begabtenförderung können wir uns vermutlich sparen, wenn wir die heterogenen Inklusionsklassen wieder in Lerngemeinschaften aufteilen, die für jedes Kind förderlich sind.
Praxistauglichere Vorschläge finden Sie im ersten Beitrag dieses Newsletters, verfasst von Régis Ecklin, einem jungen Lehrer, der sich zu sagen traut, dass es Faktenwissen braucht, um Sprache zu verstehen und sich richtig auszudrücken: «… eine saubere Sprache ist die Grundvoraussetzung für einen sauberen Gedanken.» Und weiter: «Ohne gefestigten Wortschatz kein Inhalt und ohne kohärente Grammatik kein Sinn.» Zu diesem Zweck, so Régis – und man kann ihm nur zustimmen – macht es Sinn, auch Vokabeln zu lernen und Diktate zu schreiben.
Nach den ganzen Pisa-Artikeln verweilen wir gerne bei Carl Bossard, beim Bericht über seinen herrlichen Vortrag im Verein «Starke Volksschule Zürich»: Die Beziehung zwischen dem Lehrer und seinen Schülern steht bei ihm immer im Zentrum des Geschehens und der vielen Dinge, die es in der Schulzeit zu lernen gibt. Im anschliessenden Artikel freut er sich mit dem Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland über das klare Abstimmungsresultat der Stimmbevölkerung, die ihren Pädagogen die Lehrmittelfreiheit – und damit gleichzeitig ein Stück Methodenfreiheit – zurückgegeben hat. Mit seiner Frage: «Warum nicht die Strategie ändern?», wenn deren praktische Umsetzung derart niederschmetternde Ergebnisse hervorgebracht hat, schliesst sich der Kreis. Dieselbe Frage ist zu stellen, wenn wir künftig bessere Resultate der Pisa-Tests anstreben, und weit darüber hinaus für eine Schulbildung, deren unverzichtbare Grundlage die gute Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift ist.
Die sicher von niemandem gewollte Folge einer Schule mit vielen alleingelassenen, entmutigten Kindern ist die erschreckende Zunahme von Kindern und Jugendlichen in den psychiatrischen Praxen und Kliniken. Der mehrmals genannte Leistungsdruck als eine der Ursachen psychischer Erkrankung Jugendlicher kann entstehen, wenn die Schüler mit einer Fülle von Lernstoff in zu vielen Schulfächern gleichzeitig überflutet werden, ohne dass ein Erwachsener da ist, der sie an der Hand nimmt und sicher durch den Strudel hindurchführt. Ein Coach, der keinen Klassenunterricht machen soll, für das einzelne Kind jedoch nicht genügend Zeit hat, kann den Klassenlehrer nicht ersetzen. Es ist sehr gut zu verstehen, dass immer mehr Lehrer sich gegen eine derartige Degeneration ihres Berufes zur Wehr setzen.
Wir wünschen Ihnen eine erhellende Lektüre.
Marianne Wüthrich
Inhalt
- Pisa: Aufregung produzieren oder Konsequenzen ziehen?
- Am Anfang war das Wissen
Zürcher Bote 22.11.2019, Aktuell, Régis Ecklin, Zollikerberg - Der falsche Reformeifer rächt sich
Tages-Anzeiger, 4.12.2019, Pisa-Studie, Kommentar, Raphaela Birrer Ressortleiterin Inland - Schweizer sind nur Mittelmass
Tages-Anzeiger 4.12.2019, Pisa-Studie, Janine Hosp, Tim Wirth und Yannik Wiget - Pisa-Studie 2019: Schweizer Schüler verschlechtert
Blick 3.12.2019, Christian Beutler - Wer nicht liest, ist abgehängt
Tages-Anzeiger 4.12.2019 Pisa-Studie, Martin Ebel - Lese-, nicht Medienkompetenz
NZZ 6.12.2019, Leserbrief - «Schulkinder suchen keinen Coach, sie wollen einen Häuptling.
Zürcher Bote 29.11.2019, Timotheus Bruderer - Operatives vom Prinzipiellen her denken
Journal21, 1.12.2019, Carl Bossard - Die geleitete Lehrmittelfreiheit kommt - ein echter Meilenstein
LVB (Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland) 25.11.2019 - Tendenzen geben zu denken
EDU-Standpunkt Dezember 2019, Lisa Leisi, Präsidentin EDU Kanton St. Gallen - Digitalisierung mit Augenmass
Galler Tagblatt, 25.11.2019, Leserbrief - Digitalisierung in der Schule
NZZ 6.12.2019, Leserbrief - Soziale Medien machen Kinderseelen krank
Sonntagszeitung 24.11.2019, Dominik Balmer, Stv. Ressortleiter Nachrichten - Da haben wir Erwachsene etwas gar nicht gut gemacht
Sonntagszeitung 24.11.2019, Arthur Rutishauser, Chefredaktor Tages-Anzeiger - «Mitschüler verprügelten und beleidigten mich»
20Minuten 24.11.2019, von B. Zanni - «Der Druck in der Schule ist zu gross» Kinder sollen wieder spielen: Schluss mit dem Lernzwang
Schweiz am Wochenende 30.11.2019 von Sabine Kuster - Für eine Geschichte des Friedens
NZZ 27.11.2019, Zuschriften, Gastkommentar von Alain Lamassoure