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Newsletter vom 23.6.2019

Götterdämmerung in der Pädagogik

Gegen Ende der Unterstufe packte mein Sohn eine Leidenschaft fürs Lesen. Er las vom Globi-Buch bis zu den Seefahrergeschichten so ziemlich alles, was er in seiner Kinderbibliothek vorfand. Leichtere Lektüre bewältigte er meist liegend im Bett und dabei schien er beim Lesen kaum zu übermüden. Doch einmal fand ich ihn aufrecht sitzend an seinem kleinen Pult, wo er hoch konzentriert ein Buch las. Er war vertieft in die tragische Geschichte von Scotts Wettlauf zum Südpol. Auf die Frage, warum er denn diesmal nicht im Bett das Buch lese, entgegnete er: «Das Buch ist wahnsinnig spannend, aber wenn ich es nicht genau lese, komme ich nicht mehr mit. Ich muss mich voll konzentrieren.»

Die Begebenheit zeigt, dass man eine Geschichte auf ganz verschiedene Weise lesen und im besten Fall verinnerlichen kann. Ich glaube nicht, dass uns flüchtiges Lesen an Computer­bild­schirmen noch in den Mussezustand einer vertieften Auseinandersetzung mit einem Textführt. Man pickt sich ein paar Informationen heraus, um möglichst rasch wieder antworten zu können. Mit der Zeit gewöhnen sich viele ans Überfliegen von Texten, was ein Eintauchen in die geschilderte Welt oder ein umfassendes Verstehen von Zusammenhängen erschwert.

Carl Bossard weist in seiner brillanten Zusammenfassung eines Buchs von Jürgen Kaube darauf hin, dass unsere auf rasches Aufnehmen ausgerichtete Lesekulturder Oberflächlichkeit Tür und Tor öffnet. Und Gottlieb Höpli doppelt mit seiner Kolumne über das hastige Lesen am Bildschirm eindrücklich nach.

Ein Dauerbrenner der pädagogischen Unruhe sind die gescheiterten didaktischen Konzeptepraxisferner Hochschuldozenten. Es rächt sich jetzt, dass man an den meisten Pädagogischen Hochschulen zeitweise glaubte, auf den Einsatz berufserfahrener Lehrpersonen als Fach­didak­tiker verzichten zu können. Mit einiger Verblendung wurde verkündet, die neuen Erkenntnisse in der Fachdidaktik seien den bisherigen Methoden weit überlegen. Den Fachdidaktikern aus der Volksschule wurden so viele Auflagen für ihre Tätigkeit an den Hochschulen gemacht, bis sie fast ausnahmslos kündigten.

Das Feld war danach offen für den vermeintlich grossen Sprung nach vorn. Laufend wurden neue Dogmen verkündet, die alles Bisherige in den Schatten stellen sollten. Sprachenlernen gelinge besser durch ein spielerisches Sprachbad statt über einen mühsamen Weg mit viel Üben und dem Aneignen von elementarer Grammatik. In der Mathematik waren die Forscher überzeugt, mit entdeckendem Lernen kämen die Schüler viel weiter als mit dem Vermitteln mathematischer Grundkenntnisse durch sorgfältige Instruktion.

Doch in diesen Wochen folgte eine schon fast brutale Ernüchterung. In Frankreich herrscht Alarmstimmung, nachdem festgestellt wurde, dass die Defizite der Schüler in elementarer Mathematik enorm sind. Das Bildungsministerium versucht nun das Steuer herumzureissen, indem es den Schulen eine Radikalkur für instruierendes Lernen verordnet. Im Beitrag von Alain Pichard und Astrid Baumann wird diese schon fast unglaubliche Kehrtwendung ausführlich erläutert.

Doch auch bei uns besteht kein Grund, sich auf die Schulter zu klopfen. Die Resultate der nationalen Tests zur Überprüfung der Grundkompetenzen in Mathematik waren alles andere als erfreulich. Bei der Erziehungsdirektorenkonferenz herrscht grosse Ratlosigkeit, da die Ergebnisse überhaupt nicht den Erwartungen entsprechen.

Unsere Autoren und Leserbriefschreiber sehen das Grundübel in den Fehlentwicklungen im didaktischen Bereich. Verloren gegangen sei der Dialog auf Augenhöhe zwischen den Hoch­schuldozenten und den Schulpraktikern.Irgendwie erinnert das Verhalten tonangebender pädagogischer Akademiker an die vertrackte Situation in der grossen Politik, wo eine in vielen Fragen abgehobene politische Elite die Sorgen eines Grossteils der Bevölkerung gar nicht kennt.

Die den Puls des pädagogischen Geschehens erlebenden Lehrerinnen und Lehrern sind auf­gerufen, das Heft wieder in die Hand zu nehmen. Konkret heisst dies, dass sie sich nicht länger zurückhalten, den Abbruch erfolgloser und teurer Schulexperimente unmissverständlich zu fordern. Sicher wird sich die Lehrerschaft dabei innovativen Neuerungen nicht verschliessen, aber die ungeprüfte Übernahme weltfremder Konzepte darf nicht länger zum Schaden unserer Jugend hingenommen werden.

Werfen Sie einen Blick auf unseren Newsletter. Namhafte Autorinnen und Autoren setzen sich mit den aktuellen Fehlentwicklungen auseinander und plädieren für ein konstruktives Umdenken in der Pädagogik. Das ist doch eine gute Sache.

Für die «Starke Volksschule Zürich»

Hanspeter Amstutz

Inhalt

  • Götterdämmerung in der Pädagogik
    6.2019, Hanspeter Amstutz
  • Verblödet Schule? fragt Jürgen Kaube
    Journal21 14.6.2019, von Carl Bossard
  • Bildschirmlesen kann Verstehen gefährden
    Tagblatt, 18.6.2019, Kolumne von Gottlieb Höpli
  • Wieso Lehrer so wichtig sind
    Tages-Anzeiger 8.6.2019, Mamablog von Regula Portillo, Freie Texterin und Autorin
  • Der Abstieg der Grande Nation in Sachen Mathematik
    Condorcet Bildungsperspektiven 12.6.2019, Alain Pichard und Astrid Baumann
  • Warum sind die Lehrer in Aufruhr?
    Zeit-Fragen 18.6.2019, von Claude Meunier-Berthelot, französische Buchautorin, Juristin und Lehrerin
  • Fluch und Segen der Privatschulen
    Tagblatt St. Gallen 17.6.2019, Kolumne von Mario Andreotti
  • An den Schulen lebt der Filz
    NZZ 22.6.2019, Schweiz, von Jörg Krummenacher
  • EDK, AVS, FHNW – das Bermudadreieck der Eigenmächtigkeit
    Starke Schule beider Basel 4.6.2019, Felix Hoffmann
  • Die Städte rüsten die Schulen digital auf
    NZZ 18.6.2019, Jörg Krummenacher
  • Die Bildungsdaten gehören allen
    NZZ 18.6.2019, Meinung und Debatte, Larissa Rhyn
  • Hausaufgabenhilfe 2.0
    Tages-Anzeiger 17.6.2019, Kultur& Gesellschaft, von Aleksandra Hiltmann
  • Bildungsvergleich und Lehrplan 21
    NZZ 12.6.2019, Zuschriften
  • Bildungsbürokratie
    NZZ 11.6.2019, Zuschriften
  • Es lässt aufhorchen, dass einige Junglehrer wieder aussteigen
    Galler Tagblatt 18.6.2019, Meinung, Leserbriefe