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Newsletter vom 28.10.2018

Abschaffung des Lateins? Ein Symptom der Bildungsmisere in unserer Schule

Bei der Lektüre der berührenden Texte von Carl Bossard und Rainer Werner spürt der Leser: Hier sprechen zwei Menschen zu uns, die eine Bildung im wahrsten Sinne des Wortes «genossen» haben.

Ein Fach, das vor noch nicht so langer Zeit selbstverständlicher Teil einer humanistischen Bildung war, ist Latein. Der Fachdidaktiker Hans Meyer und die langjährige Redaktorin Esther Girsberger geben dem Nicht-Lateiner eine Ahnung davon, was junge Menschen beim Lateinlernen bisher mit auf den Weg bekommen haben und weiterhin bekommen könnten: Eine grundlegende grammatikalische Schulung, die einen fortan die Klippen der Muttersprache und anderer Sprachen leichter erklimmen lässt; die Faszination beim Herumknobeln an einem komplexen Satzgefüge; das Denken in logischen und sinngebenden Zusammenhängen; das Erfassen der sozialen und historischen Hintergründe eines Textes aus der römischen Antike als Hilfe für das Verständnis von Texten aus anderen Epochen… Eine Welt, die meine Mitschüler und ich vor langer Zeit mit unserem von seinem Fach begeisterten Lateinlehrer, der uns auch die Bedeutung der Antike für die europäische Geschichte nähergebracht hat, betreten durften.

Und dann landen wir in der knallharten Wirklichkeit von 2018: In manchen Lateinklassen sässen nur noch wenige Schüler, also könnte man sich die Kosten für diesen alten Zopf sparen und das Latein an den Schweizer Gymnasien gleich ganz abschaffen. Diese Denkweise ist ein erschreckendes Symptom der zunehmenden Schmalspurbildung in einer ökonomisierten Schule. Vom simplen «Bildungs»-Verständnis der PISA-Tests über das Credits-Sammeln zwecks raschem und kostensparendem Hochschulabschluss à la Bologna ist der Weg zur Streichung des Lateinunterrichts vorprogrammiert. «Es gibt Wichtigeres, das man jungen Frauen und Männern mit auf den Weg geben möchte», so zum Beispiel die Chefredaktion des Tages-Anzeigers (Seite 7). Tatsache ist – und die wird durch solche schwachsinnigen Aussagen nicht aus der Welt geschaffen – dass man in einer Volksschule mit dem kompetenzorientierten und vereinzelnden Lehrplan 21 nicht das Rüstzeug erwirbt, um Latein zu lernen, übrigens auch keine andere Sprache.

Haben Sie gewusst, dass die D-EDK im Lehrplan 21 auch einen Latein-Lehrplan fabriziert hat? Denn einige Kantone bieten in der Oberstufe der Volksschule Latein an für Schüler, die anschliessend ins Gymi wollen. Anhand dieses Lehrplans wird die Absurdität des LP21 besonders deutlich.

Da «können» die Schüler «in einem kurzen, einfachen Satz unter Anleitung Satzglieder erkennen» oder Texte «sprachlich und inhaltlich analysieren und deuten», ja sogar «über die ästhetische Wirkung vorgetragener Texte nachdenken». Beim Hören kurzer Texte können sie «einzelne Wörter und Informationen verstehen, wenn langsam und sinnhaft gesprochen wird, das Thema vertraut ist und der Text visuell unterstützt wird (z.B. Bild, Geste).» Doch, Wörtli lernen sollen sie auch ein bisschen, nämlich «die Grundbedeutungen weniger ausgewählter Wörter». Ja, man höre und staune, sie «können» sogar «Wörter des gelernten Wortschatzes orthographisch korrekt schreiben»! Zur Grammatik, der Königsdisziplin der lateinischen Sprache, findet sich lediglich ein kümmerliches Absätzchen. Jugendliche auf solche Weise ins Latein «einzuführen», ohne einen strukturierten, zeitintensiven und lehrergeführten Aufbau, ist eine Ungeheuerlichkeit.

Nach all diesen Häppchen da und Aufschnappen dort wird's dann plötzlich happig: Die Schüler «kennen im Überblick die historischen Hintergründe, die zur Beeinflussung vieler europäischer Sprachen durch das Latein geführt haben (z.B. Vulgärlatein, Humanismus).» Wenn schon keine humanistische Bildung, dann wenigstens die Bedeutung des «Humanismus» «kennen»…

Wir wollen aber nicht nur über vergossene Milch klagen, sondern lieber einen frischen Topf aufsetzen. Gerade für Kinder aus bildungsferneren oder fremdsprachigen Familien, die es ins Gymi schaffen – und das sind gar nicht so wenige – ist das Lateinobligatorium im Untergymnasium ein Segen und erhöht die Chancengleichheit erheblich. So habe ich eine junge Frau bis zur Matura begleitet, in deren Familie eine fremde, dem Deutschen nicht verwandte Sprache gesprochen wird. Dass sie über ihrem Lateinbuch ächzte und seufzte, konnte ich verstehen, musste sie doch neben dem Deutsch, das sie nicht wirklich beherrschte, und den anderen Fremdsprachen nun noch eine weitere Sprache lernen. Aber zu ihrer Verblüffung zeigte sich, dass die lateinische Grammatik ganz besonders für sie als Fremdsprachige eine echte Stütze für das Verständnis und das Formulieren deutscher und französischer Sätze und Texte wurde. Zudem konnte sie ihren schmalen Wortschatz mit zahlreichen Fremdwörtern erweitern.

Warum nicht Latein auch als Beitrag zur Chancengleichheit für lernfreudige fremdsprachige Jugendliche in Betracht ziehen? Selbstverständlich soll hier dieses Fach nicht ausgespielt werden gegen andere wichtige Schulfächer. Logisches Denken und Erfassen von Zusammenhängen kann auch in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern oder in Geschichte gelernt werden. Von zentraler Bedeutung ist, dass der Lernstoff gründlich gelernt, geübt und durchdrungen wird, mit genügend Wochenlektionen und im lehrergeführten Unterricht. 

Wir wünschen viel Freude beim Lesen!

Für das Redaktionsteam der «Starken Volksschule Zürich»

Marianne Wüthrich

Inhalt

  • Abschaffung des Lateins? Ein Symptom der Bildungsmisere in unserer Schule
  • Lehrer ohne Eigenschaften?
  • Unterforderung ist das Übel der Zeit
  • Latein als Pflichtfach ist überholt
  • Weniger Latein an den Gymnasien
  • Das Latein am Ende?
  • «Latein verbessert die analytische Kompetenz»
  • Der Nutzen von Latein ist viel grösser, als man denkt
  • Zwischen Spreu und Weizen trennen
  • Schulischer Irrgarten
  • Allen Schülern eine gute Bildung geben
  • Abstimmungen im Kanton Graubünden am 25.11.2018
  • Veranstaltungshinweise
    Das gesellschaftliche Bild und die pädagogische Bedeutung der Lehrberufe
    Bildungspolitik auf dem Holzweg?