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Newsletter vom 9. März 2025

Unsere Volksschule den Bildungseliten überlassen?

Unsere Volksschule den Bildungseliten überlassen?

Themen im aktuellen Newsletter sind einmal mehr die Infragestellung der integrativen Schule als angeblich einzig richtige Lösung, das Seilziehen um die allgemeinbildende Lehrabschlussprüfung sowie das bemerkenswerte Eingeständnis eines der aktivsten Unterstützer von Schulreformen, keine Ahnung zu haben, warum unsere Schulbildung schlechter geworden ist.

Ross und Reiter der Schulreformen sind bestens bekannt

NZZ-Journalist Sebastian Briellmann schreibt Klartext zu einer Reihe fragwürdiger Schulreformen, die eine massive Verschlechterung der Volksschulbildung und die Entkernung des Lehrerberufs verursacht haben («Die Schule wird zur Therapieanstalt»). Im Zentrum seines Artikels steht zum einen das Integrationsmodell mit all seinen negativen Auswirkungen auf die Bildung unserer Jugend – nicht nur der lernschwächeren Schüler. Zum anderen nennt der Autor aber auch Ross und Reiter der Reformen: eine mehrheitlich schulferne Bildungselite, die seit Jahrzehnten die Deutungshoheit für sich beansprucht, ohne für die Folgen der von ihr durchgesetzten Neuerungen einzustehen. Dies wird in unserer heutigen Textsammlung an verschiedenen Stellen deutlich.

Die Vorwürfe zweier Leserbriefschreiber, der Autor zeichne ein undifferenziertes Bild der Integration beziehungsweise er stütze sich kaum auf empirische Evidenz, sind angesichts der zahlreichen negativen Berichte aus dem Schulalltag und der erwiesenen sinkenden Schülerleistungen nicht nachvollziehbar. Aus pädagogischer Sicht ist wichtig, dass dieses Modell nicht jedem Kind gerecht wird, ja dass die vielen Sondersettings manch einem sogar schaden können, wie Briellmann mit Verweis auf Prof. Roland Reichenbach anmerkt.

Kleinklassen schaffen Recht auf Bildung und Fürsorge für alle Kinder

Erfreulicherweise hat der Zürcher Kantonsrat kürzlich entschieden, eine sinnvolle Platzierung von Kindern in Kleinklassen zu erleichtern. Damit schliesst er sich der wachsenden Einsicht in immer mehr Kantonen und politischen Parteien an, dass die «Integration um jeden Preis» gescheitert ist («Der Kanton sägt an der integrativen Schule»).

Schulferne Bildungselite, Beispiel 1:

Wider jede Realität hält die Zürcher Bildungsdirektorin in der Kantonsratsdebatte an ihrem Widerstand gegen Kleinklassen fest. Ihr Beharren auf sogenannten Schulinseln, wo man störende Kinder vorübergehend separiert, um sie dann wieder in ihre Klasse zurückzuschicken, zeigt die Bildungsferne von Silvia Steiner. Denn für jeden Pädagogen ist klar, dass eine solche «Lösung» ohne jeden Anspruch, ein Kind voranzubringen, seinem Recht auf Bildung und Fürsorge prinzipiell entgegensteht.

Hand und Fuss hat dagegen die Argumentation von Sekundarlehrer und GLP-Kantonsrat Christoph Ziegler, warum Kleinklassen besonders für verhaltensauffällige Schüler sinnvoll sein können («Wir haben die Probleme unterschätzt»). Allerdings ist zu ergänzen: Selbstverständlich dürfen Kleinklassen nicht in erster Linie dazu dienen, die Regelklassen von «schwierigen» Schülern zu entlasten, sondern sie sollen Kindern mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten eine echte Bildungschance ermöglichen. (Übrigens kommt es häufig vor, dass ein Kind aufhört, den Unterricht zu stören, wenn es in einer adäquaten Lernsituation neuen Mut fassen kann.) Aber auch alle anderen Kinder haben ein Recht auf einen Schulunterricht, der nicht mehrheitlich aus selbstorganisiertem Lernen besteht. Und nicht zu vergessen: Die Lehrerinnen und Lehrer haben das Recht, ihren Beruf als Persönlichkeiten mit einem menschlichen und pädagogischen Anliegen ausüben zu können. Die Herabstufung des Lehrerberufs auf Coaching und administrative Beschäftigung ist einer der Hauptgründe, warum gerade die besten Lehrkräfte ihren Beruf aufgeben.

Erfolgreicher Widerstand gegen Abschaffung der ABU-Lehrabschlussprüfung

Schulferne Bildungselite, Beispiel 2:

Wie bereits in einem früheren Newsletter berichtet, wollte das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) über die Köpfe der Lehrerschaft an den Berufsschulen hinweg die schriftliche Lehrabschlussprüfung im allgemeinbildenden Unterricht (ABU) abschaffen. Dies mit der absurden Begründung, in schriftlichen Prüfungen würden Fakten abgefragt, während mit mündlichen Prüfungen die «Kompetenzen» der Schüler «erhöht» werden könnten. Carl Bossard stellt in seinem Artikel in pädagogisch überzeugender Weise klar, dass ohne Wissensfundament auch keine Kompetenzen entstehen. Und er freut sich über den breiten Einspruch aus Lehrerverbänden und Politik, der die Umsetzung der verbohrten Ideen aus der Bildungsverwaltung ins Wanken brachte («Was Widerstand von unten bewirken kann»).

Aufhorchen lässt die hanebüchene Rechtfertigung aus dem SBFI: Man habe die Reform «in Zusammenarbeit mit Wissenschaftern» erarbeitet und «den aktuellen Herausforderungen entsprechend aufgegleist». «Wir wollten nicht gar nicht, sondern anders prüfen.» («Der Bund schafft die Lehrabschlussprüfung doch nicht ab»). Mit derart hohlen Phrasen steuert man an der Realität vorbei. Das Berufsleben fordert von jungen Erwachsenen, dass sie fähig sind, sich in ein Thema zu vertiefen und sich auf einen Lernstoff zu konzentrieren. Der Prüfungsstoff im Fach Allgemeinbildung ist überschaubar, den kann jeder junge Mensch nach drei oder vier Jahren Berufslehre bewältigen, wenn er will. In diesem Sinn stellt die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Ständerates (WBK-S) richtig fest, «der Verzicht auf die Abschlussprüfung sei ein falsches Signal an die Leistungsbereitschaft der Lehrlinge.» Schön, dass sich unsere Parlamentarier in Bern mit dieser wichtigen Frage befassen.

Nun schiebt das SBFI den Entscheid, die Form der Prüfung Allgemeinbildung festzulegen, an die Kantone ab. Immerhin ist anzunehmen, dass die Waage sich in Richtung schriftliche Prüfung neigen wird. Andernfalls gäbe es vermutlich einen Aufstand der ABU-Lehrkräfte. Bereiten Sie einmal Tausende von mündlichen Prüfungen vor, natürlich mit verschiedenen Aufgaben, denn die Kommunikation funktioniert heute auch über die Schulen hinweg problemlos.

«Wir sind im Blindflug»

Schulferne Bildungselite, Beispiel 3:

Das Interview mit Bildungsforscher Stefan Wolter gibt besonders zu denken. Der Nationalökonom hat sein Arbeitsleben mehrheitlich in der Bundesverwaltung verbracht, seit 1999 ist er Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung SKBF und Titularprofessor für Bildungsökonomie an der Universität Bern. Angesichts seiner zahlreichen Mandate in der Bildungselite liegt es nahe zu vermuten, dass Wolter einigen Einfluss auf die Schweizer Schulreformen hatte und hat. (siehe https://www.skbf-csre.ch/skbf/team/stefan-wolter/).

Im Interview sagt er doch tatsächlich: «Es gibt bei uns Reformen, die gross angekündigt und mit schönen Worten beschrieben werden – aber nie wird die Abmachung getroffen, welches Ziel damit erreicht werden soll, und noch viel wichtiger: wie man die Zielsetzung einmal auch überprüfen will. So stehlen sich alle aus der Verantwortung.» Nach Wolters ökonomischer Vorstellung müssten die Ziele mit Testserien gesetzt und kontrolliert werden. Dies führt jedoch an der Realität der Schule und der Bildung vorbei. Wenn wir unsere Jugendlichen mit einer Flut von Tests überschütten und statistische Zahlenkolonnen füllen würden, brächte ihnen das keine bessere Bildung. Denn es ist bereits allgemein bekannt, dass die Leistungen unserer Schüler, und zwar nicht nur der neu eingewanderten, massiv abgenommen haben. Wolters: «Es sind vor allem die einheimischen Schüler, die in den letzten zwanzig Jahren schlechter geworden sind».

Es genügt nicht, den Bildungsabbau festzustellen, sondern wir müssen etwas dagegen tun. Wolters Frage: «Wo sollen in Zukunft die Arbeitsplätze entstehen für den Viertel der Schulabgänger, die keine adäquaten Kompetenzen in Grundlagenfächern haben?» geben wir ihm und den anderen Bildungsverantwortlichen zurück. Es ist ihre Pflicht und Schuldigkeit, die dringenden Forderungen vieler Eltern und Lehrer nach einer besseren Volksschulbildung und einer praxistauglichen Lehrerbildung aktiv voranzubringen. Wir dürfen nicht weitere zwanzig Jahre verstreichen lassen!

Für die Redaktion: Marianne Wüthrich