Den Unterricht sach- und menschengerecht gestalten bleibt das grosse Ziel
Gedanken zur Maturitätsreform und zur Digitalisierung
«Starres Fächerdenken ist überholt», titelt der Tagi seinen Kommentar zur Maturitätsreform. Es brauche eine «inhaltliche Neuausrichtung», weil der Lehrplan der Gymnasien seit 30 Jahren nicht reformiert worden sei.
Es mag ja spannend sein für die Gymischüler, wenn sie alle möglichen Schwerpunktfächer wählen können. Aber damit ist eines der zentralen Probleme unserer Schule nicht gelöst: Zuerst müssen die Grundlagen gelegt sein, bevor man Zeit und Raum hat, auf sicherer Basis weiter zu experimentieren. Das gilt nicht nur für die Schulabgänger der Volksschule, von denen viele ungenügende Kenntnisse in Mathematik und Deutsch in die Mittelschule oder die Lehre mitbringen, sondern der Mangelzustand pflanzt sich fort bis in die Hochschulen. Wie Fabienne Sennhauser in ihrem erwähnten Kommentar hinweist, klagen auch diese «über das unzureichende Niveau der Studienanfänger» in Mathematik oder Deutsch. In eindrücklicher Erinnerung ist mir eine Aussage des früheren Rektors der Universität Zürich, Michael Hengartner, in einem Interview: Viele Studenten würden Seminararbeiten abgeben, in denen kein Satz fehlerfrei ist, und der Matheprofessor müsse ihnen zuerst den Dreisatz erklären (!).
Wie sind die Mängel zu beheben?
Offensichtlich haben es die Spitzen der Lehrerverbände immer noch nicht kapiert: Wesentlich für den Lernerfolg unserer Jugend sind nicht strukturelle Reformen an der Oberfläche, sondern im Zentrum muss «lernwirksames Unterrichten mit klaren Verbindlichkeiten» stehen. Unermüdlich weist Carl Bossard auf die Unverzichtbarkeit des verstehenden Lernens hin, so auch dieses Mal. Dafür ist der Klassenunterricht am geeignetsten, und zwar in allen Schulstufen. Denn mit Selbstorganisiertem Lernen SOL kann man sich nur Lernstoff aneignen, den man versteht.
Vor lauter originellen Ideen für einen «zeitgemässen» Lehrplan dürfen wir also auch am Gymnasium nicht vergessen, dass es genügend Zeit für einen Klassenunterricht in allen Grundlagenfächern braucht, damit wir unserer Jugend einen Teil des reichhaltigen Wissens weitergeben können, das uns zur Verfügung steht. Und damit auch Raum bleibt für das unerlässliche Üben und Festigen des Gelernten. Mit den geplanten Schwerpunktfächern würden aber im Gegenteil etwa 20 Prozent der Lektionen in den Grundlagenfächern, vor allem in den Sprachen, wegfallen. «Die Arbeit an der Sprache» aber «ist Arbeit am Gedanken», hält Robin Schwarzenbach richtig fest («Die geplanten Schwerpunkte an den Gymnasien werden bereits kritisiert»).
Ob es neue Mischfächer braucht, damit Jugendliche «interdisziplinäres Arbeiten» und «vernetztes Denken» lernen? Oder ist es nicht die fachlich kompetente Einführung und die menschlich einfühlsame Anleitung durch den Lehrer, worauf es ankommt? Zuerst muss nämlich etwas da sein, das man vernetzen kann, dann aber ist es in jedem Schulfach möglich, Zusammenhänge zu finden und die Welt zu entdecken. Das gilt besonders auch für das Fach Geschichte, wie Hanspeter Amstutz in seinem Leserbrief einmal mehr betont: Erforderlich ist in der Volksschule ein eigenständiges Fach mit einem klaren inhaltlichen Aufbau sowie eine vertiefte Ausbildung der Lehrkräfte. Ein sinnvoller Weg zur Verbindung von Kenntnissen und echten Lebenserfahrungen ist auch der Austausch zwischen den Schweizer Sprachkulturen, zu dem Sie einen Artikel in unserer Sammlung finden.
Antwort auf die herausfordernde Digitalisierung: Mit der Klasse das Gespräch suchen
Gehen wir nun zur Digitalisierung der Schule und ihrer neuesten Extremform, der sogenannten «Künstlichen Intelligenz» KI. Im Bericht unseres Kollegen Urs Kalberer über die Veranstaltung der «Starken Volksschule Zürich» zur Digitalisierung der Schule liegt es noch einmal auf dem Tisch, dass Lernen auch in Zeiten der Tablets und Laptops ein analoger Vorgang ist und mit der Realität des Lebens verbunden bleiben muss. Wer seine Schüler vorwiegend auf dem Laptop herumklicken lässt, verwehrt ihnen viele echte Lernerlebnisse.
In einem Interview erfahren Sie von zwei Gymilehrern, dass ihre Schüler sich von KI ihre Aufsätze und Interviews schreiben lassen, ohne dass man es ihnen nachweisen kann. Den ratlosen Lehrern geht es wie Goethes «Zauberlehrling»: Sie wissen nicht, wie sie die Geister, die unsere hoch technologisierte Wirtschaft gerufen hat, wieder loswerden können («Die Technologie ist jetzt da»).
In Wirklichkeit ist es auch heute die Lehrerpersönlichkeit, die erfahrene Pädagogin, welche die Verantwortung dafür trägt, dass ihre Schüler das Notwendige und Gewünschte für ein würdiges und erfülltes Leben als Erwachsene lernen können und dass sie sich auch mit dem über-technologisierten Zustand unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Das Fach «Medien und Informatik» sollte an erster Stelle genutzt werden, um mit der Klasse ins Gespräch zu kommen: Zum Beispiel über die Frage, wem das Eindecken unserer Schulen mit elektronischer Hard- und Software am meisten bringt. Geht es darum, dass die Schüler besser lernen können, wie behauptet wird? Oder nicht viel mehr um ein Geschäft mit unvorstellbaren Gewinnen für die IT-Konzerne? Will ich mich durch die Tech-Konzerne einspannen lassen in eine 20-zu-80-Gesellschaft, in der die (Dienstleistungs-)Industrie Heerscharen dürftig gebildeter Berufsleute braucht, die den lieben langen Tag auf ein paar Knöpfe drücken? Oder will ich meinen Platz als gebildeter und verantwortungsbewusster Mitarbeiter und Mitgestalter unseres Gemeinwesens einnehmen? Werde ich nur meine Karriere im Auge haben oder mich auch dafür einsetzen, dass die Auswüchse der Bildungsreformen an unseren Schulen heruntergefahren werden und künftig wieder alle Kinder eine gute Bildung erhalten?
Was verliere ich als Gymi-Schülerin, wenn ich mir von einem Computerprogramm meine privilegierte Gelegenheit wegnehmen lasse, im Austausch mit meinen Lehrern und meinen Klassenkollegen selbst denken zu lernen, mich vertieft mit Sachfragen auseinanderzusetzen und die Ergebnisse in eigenen Worten zu formulieren? Deutschlehrer Pfister spricht dieses Problem im Interview so an, dass es unter die Haut geht – seine Schüler würden sich sicher gerne an einem Gespräch darüber beteiligen. Mathe-Lehrer Jenni traut seinen Schülern zu, «selbst zu verstehen, warum sie etwas lernen.» Auch dies kann Thema eines Klassengesprächs sein.
Gegensteuer zur Digitalisierung: Kontrolle mit Lernbeziehung verbinden
Einer der interviewten Gymi-Lehrer beklagt, dass er wegen KI gezwungen ist, seine Prüfungs- und Benotungsmethoden neu zu gestalten. Das stimmt, aber die notwendigen Änderungen müssen nicht unbedingt als «Rückkehr zu altmodischen Methoden» empfunden werden – es kommt darauf an, wie der Lehrer sie gestaltet.
In meiner Zeit als Berufsschullehrerin gab es noch keine KI, aber manche Schüler fanden mit Googeln fertig ausgearbeitete Texte oder Interviews, die sie für ihre Abschlussarbeiten benutzten. Entsprechend richteten wir Lehrkräfte das «Setting» ein. So führte ich mit jedem Schüler ein Zwischengespräch, in dem ich mir ein Bild machte, was er bisher gearbeitet hatte und ob er in sein Thema persönlich «eingetaucht» war, auch besprachen wir, was noch zu tun war. Die Schüler empfanden dies nicht in erster Linie als Prüfung, weil sie mein Interesse an ihrem Thema und an einem guten Gelingen spürten. Allfällige Minuspunkte konnten sie in der Folge auswetzen. In einzelnen Fällen musste ich klären, ob und wie das Interview wirklich stattgefunden hatte. Einige wenige Male musste ein Schüler seine Abschlussarbeit wiederholen, was auf sein Lernverhalten eine nachhaltige und korrigierende Wirkung haben konnte. Eine mündliche Präsentation gehörte zum Konzept der Vertiefungsarbeit. Damit sie nicht zur Phantasie-Show wurde, stellte ich einige meiner Fragen im Voraus so, dass die Schüler ihren Erkenntnisgewinn mit Stolz und Freude zeigen konnten oder die Chance hatten, durch genauere Recherchen ihre Note zu verbessern. In Verdachtsfällen gab ich relativ enge Fragen vor. Immer ging es darum, in einer mitmenschlichen Beziehung die Jugendlichen zu fördern und zu fordern.
Heutige Lehrer müssen sich etwas andere Vorgehensweisen überlegen, aber die Überprüfung der wirklich vorhandenen Kenntnisse im Gespräch mit dem Schüler ist sicher eine sinnvolle Möglichkeit. Aufsätze kann man übrigens auch von Hand schreiben…
Nun wünsche ich Ihnen viel Spass beim Lesen.
Marianne Wüthrich