Wie kann das überforderte Schulsystem wirkungsvoll entlastet werden?
Vorwürfe von Elternseite, die Volksschule erfülle die an sie gestellten Aufgaben nicht oder nur unzureichend, sind in letzter Zeit wieder lauter zu hören. Störenfriede erschwerten konzentriertes Lernen in manchen Klassen, wird häufig moniert. Jugendliche seien nicht ausreichend auf die Berufswahl vorbereitet worden, will eine Strassenumfrage von 20-Minuten festgestellt haben. Und eine grosse Studie der Universität Zürich kommt zum Schluss, dass schulischer Leistungsdruck mitverantwortlich für die Tatsache sei, dass jedes zehnte Schulkind psychotherapeutische Betreuung beanspruche.
Die Vorwürfe sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Doch es wäre verfehlt, diese Liste des Versagens einfach in die Schuhe der Lehrpersonen zu schieben. Dies wird meistens fairerweise auch nicht getan, da fast alle Eltern über die vielfältigen Herausforderungen im Lehrerberuf heute gut im Bild sind. So weiss man beispielsweise, dass das arg belastende Handy-Mobbing unter Teenagern nicht allein von der Schule bekämpft werden kann. Es braucht die Mitarbeit von Eltern, Schule und Behörden, um das Sozialverhalten der Jugendlichen in gesunde Bahnen lenken zu können. Im Bericht von 20-Minuten zählt eine Primarlehrerin sehr eindrücklich auf, was ihren Schulalltag belastet. Berufswahlvorbereitung im spezifischen Sinn gehört zwar nicht zu ihrem Kernauftrag. Aber mit der Vermittlung von grundlegenden Kenntnissen und der Förderung der Lernfreude schafft sie eine gute Basis für die spätere Berufswahl.
Die schulische Integration bleibt Dauerbrenner
Es ist Sache der Bildungspolitik, alles zu tun, um gute Rahmenbedingungen für den zentralen Auftrag der Volksschule zu schaffen. Leider scheinen manche Verantwortliche aus dem Bereich der Bildungssteuerung infolge dogmatischer Fixierungen oder mangelnder Praxisnähe einen stark getrübten Blick auf die Schulrealität zu haben.
Dauerbaustelle Nummer eins ist die schulische Integration. Die aufwühlenden Berichte aus den Schulen schrecken auf und verbieten es, so wie bisher weiterzufahren. Für die Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen müssen neue Wege gefunden werden. “So viel Integration wie möglich, so wenig Separation wie nötig”, könnte man dabei als Leitlinie nehmen. Dass es in gewissen Fällen nicht ohne Separation geht, liegt auf der Hand. Es funktioniert nicht, wenn Lehrpersonen ständig den Spagat zwischen Schülern mit extremen pädagogischen Bedürfnissen und sehr Lernwilligen machen müssen. Die Lehrpersonen brennen aus und die Qualität des Unterrichts leidet massiv.
Schulinseln eignen sich nicht für stark verhaltensauffällige Schüler
Die Argumente der Befürworter einer uneingeschränkten Integration wirken abgedroschen: Es brauche kleinere Klassen, viel mehr ausgebildetes Fachpersonal und noch mehr individualisierenden Unterricht. Es sind utopische Forderungen, deren Umsetzung eine Kostenexplosion im Bildungswesen auslösen würde. Man fragt sich dabei besorgt, ob das Festhalten an einem unpraktikablen Konzept die aktuelle Krise nicht um weitere Jahre verlängern wird. Gleichfalls nicht zu überzeugen vermag die von der Zürcher Bildungsdirektion als Gegenvorschlag zur Förderklassen-Initiative präsentierte Lösung mit Schulinseln. Diese sind kein Ersatz, um stark auffällige Schüler zu betreuen. Das Kommen und Gehen bei diesem Inselbetrieb mit den oft nur wenige Tage dauernden Timeout-Phasen erschwert vielmehr eine stabilisierende Langzeitbetreuung. Weshalb Schulinseln keine Patentlösung sind, finden Sie eindrücklich geschildert in zwei Leserbriefen.
Die Integrationsfrage wirft grundlegende Fragen zum Auftrag unserer Volksschule auf. Was kann die Volksschule leisten und wo muss sie sich von gesellschaftlichen Forderungen aus dem Wunschbereich abgrenzen? Die verbreitete Erwartung, die Schule müsse für jedes Kind unter allen Umständen ein individuelles Bildungsprogramm im Rahmen einer Regelklasse anbieten, ist nicht erfüllbar. Vielmehr führt dies zu einer chronischen Überforderung unseres Schulsystems. Das erstrebenswerte Ziel einer verbesserten Chancengerechtigkeit wird nicht erreicht, indem man Integration und Individualisierung auf die Spitze treibt.
Antworten von überzeugender Klarheit zu diesen Fragen hat der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid formuliert. Er hält fest, dass die Schule ihren Auftrag eingrenzen muss, um die wesentlichen Bildungsziele zu erreichen. Es lohnt sich, seine treffenden Ausführungen, welchen in einem bemerkenswerten Gegensatz zur oft schwurbligen Sprache von Expertengremien steht, im Originaltext zu lesen.
Weiteres Streitgespräch über Integration fordert die Bildungsdirektion heraus
Die Politik ist jetzt gewaltig gefordert. Die Einführung von Förderklassen ist nicht zum Nulltarif zu haben. Es fehlen Heilpädagoginnen, die für das Führen einer Förderklasse voll ausgebildet sind. Es muss ohne ideologische Scheuklappen überprüft werden, mit welchen Fördermassnahmen im Verhältnis von Aufwand und Ertrag die beste Wirkung erzielt wird. Darüber hinaus braucht es eine Entschlackung eines für viele Schülerinnen und Schüler belastenden Bildungsprogramms.
Auf manche dieser Fragen werden Sie in einem Streitgespräch zwischen Befürwortern und Gegnern von Förderklassen in Zürich vermutlich Antworten finden können. Es geht darum, dass in der Integrationsfrage endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden. Am Schluss unseres Newsletters finden Sie die genauen Angaben zu dieser bildungspolitisch bedeutenden Veranstaltung.
Bildung ist mehr als der Erwerb direkt nützlicher Kompetenzen
Das Fach Geschichte ist ein Kulturträger ersten Ranges. Geschichte deckt auf, woher wir kommen und hilft mit, die politische Gegenwart zu interpretieren. Doch der Geschichtsunterricht in der Volksschule steckt in einer Krise, wie eine Debatte im Zürcher Kantonsrat deutlich gezeigt hat. Ärgerlich dabei ist, dass die meisten Bildungsdirektionen trotz der Warnrufe keinen Handlungsbedarf sehen. Das hat Giorgio Scherrer von der NZZ zu einem leicht geharnischten Kommentar bewogen.
Die Ausrichtung der gymnasialen Bildung ist ebenfalls ein Dauerbrenner in den Medien. So gerät das Langzeitgymnasium immer wieder unter Beschuss diverser Kritiker. Die Frage, wieweit diese bewährte Form der Begabtenförderung im Kanton Zürich beibehalten werden soll, dürfte nicht so rasch verstummen. Aber ebenso klar ist, dass eine Mehrheit der Bildungsinteressierten weiter voll hinter dem Langzeitgymnasium steht.
Das Schlusswort in der Textsammlung unseres Newsletters hat einmal mehr Carl Bossard. Er innert daran, dass Bildung weit mehr als nur das Erwerben nützlicher Kompetenzen ist. Vielleicht wird es Ihnen so ergehen wie mir: Erst beim zweiten Lesen seiner Kernaussagen habe ich seinen tiefsinnigen Gedanken wirklich folgen können. Der Autor schreibt glasklar, und dennoch fordert sein neuster Text heraus. Aber die Lektüre lohnt sich.
Hanspeter Amstutz