Es schläckt's kei Geiss weg: Unterricht bleibt der Kern der Schule
Manchmal kommt man sich vor wie in einem Perpetuum mobile. Auch wenn längst hundert- und tausendfach belegt ist, dass der lehrergeführte Unterricht unverzichtbar ist für einen guten Lernerfolg, melden sich in unseren Medien immer wieder Leute zu Wort, die glauben herausgefunden zu haben, dass das «selbstregulierende Lernen» eben doch besser funktioniere und erst noch die Chancengleichheit stärke.
Neue Wege?
Um es gleich vorwegzunehmen: Neu sind die Wege nicht wirklich, welche die beiden Lehrerinnen in Basel beschreiten («Ihre Schüler bestimmen, wann Prüfung ist»). Vielmehr sind hier die Grundzüge des gescheiterte Konzepts des Lehrplan 21 (Kompetenzorientierung, Selbstorganisiertes Lernen SOL, Lernlandschaften) und der Lehrerbildung an den PHs (individualisiertes Coachen statt Klassenunterricht) leicht erkennbar. Wenn man den Riesenaufwand zusammenzählt, den die Lehrerinnen für ihre «regelmässigen Lerndialoge mit jedem einzelnen Kind zu seinen individuellen Kompetenzen» und für die Gespräche mit den Eltern haben – wäre es da nicht sinnvoller, die kostbare Schulzeit für einen Klassenunterricht einzusetzen, wo alle Kinder gemeinsam voranschreiten können und auch genug Zeit für das individuelle Arbeiten bleibt?
Nadelöhr für den Unterricht
Es ist wohltuend, dass Carl Bossard demgegenüber den Kompass beharrlich auf das Ziel einer kindgemässen Schule ausrichtet. Eindringlich warnt er, dass ob der ganzen heutigen Betriebsamkeit das «Kerngeschäft» Unterricht zu kurz kommt, und er führt zurück zum Wesentlichen: «Und alles, was die Schule leisten soll, muss durch das Nadelöhr des Unterrichts hindurch – und durch die Interaktion zwischen Lehrerin, Lehrer und der Schulklasse. Die Bildungspolitik darf diese Institution darum nicht überlasten und sie nicht ständig verändern.»
Gut, dass inzwischen auch die FDP den Finger auf die Schieflage der Volksschule legt und fordert: «Zurück zum Bildungsauftrag!» Letzterer wird aufs Gröbste missachtet, wenn wir unsere Kinder als Versuchskaninchen für pädagogisch unhaltbare Experimente benutzen und dann feststellen müssen, dass ein Viertel von ihnen in neun Schuljahren nur mangelhaft lesen, schreiben und rechnen gelernt hat.
Klassenunterricht nicht gleich Paukerschule
Für die Praktikerin im Schulzimmer klingt der von Schreibtischpädagogen bemühte Radikalgegensatz zwischen «Stoff in die Köpfe füllen» und selbstorganisiertem Tun der Schüler reichlich konstruiert. Hanspeter Amstutz weist in seinem Leserbrief darauf hin, dass erfahrene und einfühlsame Lehrkräfte selbstverständlich den Unterricht so gestalten, dass neben der gemeinsamen Erarbeitung des Lernstoffes auch die Eigenaktivität der Schüler ihren Platz hat. Der Lehrerin obliegt es einzuschätzen, wann und wieviel in ihrer Klasse Sinn macht. Amstutz' Bemerkung: «… ohne intensive Vorarbeit in Form eines traditionellen Unterrichts läuft bei den meisten Schülern gar nichts» gilt übrigens nicht nur für Sek-B-Schüler. Auch wenn lernstarke Klassen selbständige Lernphasen besser bewältigen können, brauchen sie dennoch die Anregung und Anleitung durch die Lehrerin. So berichtet ein KV-Lehrer, der in einer Laptop-Klasse an der BMS als Stellvertreter einsprang und computerfrei unterrichtete, dass die Schüler erfreut riefen: «Endlich normaler Unterricht!»
Sogar viele Uni-Studenten stellten nach dem Fernunterricht in der Corona-Zeit fest, dass ihnen der Lehr- und Lernbetrieb an der Uni gefehlt hatte, und zwar nicht nur der Austausch mit den Kollegen, sondern auch die Vorlesungen und Übungen mit den Dozenten und Assistenten.
Menschliches Lernen ist Beziehungsgeschehen
Denn menschliches Lernen findet – nicht nur in der Volksschule – im sozialen Bezug statt, wie Carl Bossard nicht müde wird zu betonen. An dieser Tatsache redet man vorbei, wenn man die Fähigkeit zum «selbstregulierten Lernen» an drei schematischen Voraussetzungen festmachen will, wie dies zum Beispiel Erziehungswissenschafter Yves Karlen tut («Verloren in der Lernlandschaft»). Manch ein Schüler kennt passende Lerntechniken und füllt eifrig Voci-Kärtli aus, mag sich aber trotzdem nicht ans Lernen seiner Vokabeln setzen. Wenn er dies hingegen mit einer Mitschülerin zusammen tun kann, dann kommen beide voran und es macht erst noch Spass.
Langzeitgymnasium und Sekundarschule: Kein Entweder-oder
Den Leserbriefschreibern in der NZZ kann ich mich anschliessen: Warum soll das Langzeitgymnasium nicht als einer der Wege in unserem vielfältigen Bildungswesen bestehen bleiben? Warum sollen leistungsstarke und lernfreudige Schülerinnen nicht schon nach der 6. Klasse die Wahl haben zwischen der Mittelschule und einer späteren Berufslehre? Die Abschaffung des Langzeitgymis ist der falsche Ansatz für eine nachhaltige Verbesserung unseres Bildungswesens. Wir können noch lange um den heissen Brei herumreden: Den Rotstift müssen wir bei der Volksschule ansetzen. Wir brauchen wieder eine Schule und besonders eine Oberstufe, wo die Jugendlichen sich optimal auf eine (anspruchsvolle) Berufslehre oder eine weiterführende Schule vorbereiten können.
Einmal mehr: Was heisst Chancengleichheit?
Damit sind wir schon mitten im Bereich Selektion und Inklusion, Leistungsdruck und Noten, mit dem sich weitere Autoren in unserer Sammlung befassen.
Dass das Elternhaus für die Chancen eines Kindes in seinem Leben eine wesentliche Rolle spielt, darüber sind wir uns glaube ich alle einig. Wir Pädagogen dürfen aber nicht dabei stehenbleiben, sondern sollten uns an erster Stelle auf die Aufgabe der Schule und der Lehrkräfte konzentrieren. Deren Bestreben muss es sein, zur Chancengleichheit für alle Kinder beizutragen. Auch hier kommen wir nicht darum herum festzuhalten: Sie ist am besten gewährleistet im Klassenunterricht, in der persönlichen Lernbeziehung zwischen der Lehrerin und ihren Schülern. Letztere müssen natürlich auch etwas dazu tun, damit sie vorankommen. Nur mit Ziehen und Stossen geht gar nichts. «Sie müssen uns halt motivieren», erklärte einer meiner Berufsschüler, der keine Lust hatte, seinen Einsatz zu leisten. «Irrtum», antwortete ich, «Sie müssen sich selbst motivieren. Ich helfe Ihnen gerne dabei.» Er grinste, und schon war die Lernbeziehung wiederhergestellt.
Ist es weniger entmutigend für ein Kind, wenn es im (tiefsten) «grünen» Niveau lernt, als wenn es die Note Drei bekommt («Die Schüler bestimmen, wann Prüfung ist»)? Wie Mario Andreotti festhält, können Noten eine motivierende Wirkung haben, wenn sie mit einem «Weiter so!» der Lehrerin verbunden sind («Schule ohne Selektion und Noten. Ist das die Lösung?»). Oder mit einem «Du kannst mehr!», ist zu ergänzen. Wenn das Kind hingegen in der Inklusionsklasse im grünen Niveau steckenbleibt und miterleben muss, wie seine Gspänli längst im blauen oder gelben Bereich lernen, ist nicht einzusehen, inwiefern dieser Zustand seinen Mut und damit die Chancengleichheit fördern soll.
Zum «Menschenrecht auf Inklusion» ist deshalb zu bemerken: Jedes Kind hat das Recht auf Integration ins staatliche Bildungssystem. Vielen in ihrer Lernfähigkeit oder ihrem Lernverhalten beeinträchtigten Schülern nützt es dagegen wenig, wenn sie in einer Regelklasse sitzen, wo der Zug an ihnen vorbeifährt. Die pädagogische Aufgabe ist halt um vieles anspruchsvoller als ein plakativer Spruch. Die adäquate Förderung und Anleitung geht für das eine in der Regelklasse am besten, für ein anderes in einer Kleinklasse – immer darauf ausgerichtet, dass es, wenn immer möglich, später wieder in die Regelklasse einsteigen kann. Manche schaffen den Anschluss auch erst nach der Volksschule, zum Beispiel in der Berufslehre, dann kann es aber zuweilen kometenhaft aufwärtsgehen.
Ob mit der Abschaffung der Noten auch der Leistungsdruck von uns Menschen genommen werden kann, ist eine tiefergehende Frage. Die Anforderungen des Lebens sind uns gegeben. Deren Bewältigung ist oft ungemein anstrengend, kann aber dem Einzelnen auch enorme Freude und Genugtuung geben. Wie oft war ich beeindruckt vom Durchhaltewillen meiner 16-jährigen Schüler im 1. Lehrjahr, die vom gemütlichen Leben in der 3. Sek in die Realität des Berufsalltags geworfen wurden. Hier begann der Arbeitstag um 7 Uhr, und manch einer war zum ersten Mal im Leben ernsthaft gefordert. Die grosse Mehrheit schaffte es, diesem oft enormen Leistungsdruck standzuhalten. Wie stolz waren sie auf ihr erstes gelungenes Werkstück, auf den ersten selbstverdienten Lohn. Leistungsanforderungen gehören zum Leben, sie müssen keine unzumutbare Belastung sein, auch nicht in der Schule.
Marianne Wüthrich