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Newsletter vom 6. Oktober 2024

Es geht um Kinder und Jugendliche, nicht um Strukturen und mehr Geld

Es geht um Kinder und Jugendliche, nicht um Strukturen und mehr Geld

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: In der integrativen Schule, wo alle Kinder im selben Schulzimmer sitzen, ist eine gute Bildung für alle nicht möglich und die Lehrkräfte reiben sich auf. Dies bestätigt eine brandaktuelle Umfrage der Starken Schule beider Basel, die durch die Schweizer Medien ging. Immer mehr Lehrer und andere Bürgerinnen fordern neue Lösungen, um möglichst allen Kindern gerecht zu werden. Aber lesen Sie die eindeutigen Resultate der Umfrage selbst.

Pädagogische Fragestellung im Zentrum

Bei der Einrichtung von Klein- oder Förderklassen darf es nie darum gehen, «störende» Schüler los­zuwerden. (Übrigens: Manch ein Kind hört auf, sich negativ bemerkbar zu machen, wenn es in einer adäquaten Lernsituation von seiner Lehrerin erfasst wird und mit ihrer Hilfe einen konstrukti­ven Weg zum Lernen findet.) Im Zentrum muss immer die pädagogische Frage stehen: Was benö­tigt das einzelne Kind? Wie kommt es in seiner schulischen und persönlichen Entwicklung voran? Dieser Ansatz kommt allen Beteiligten zugute: Auch den Kindern in der Regelklasse und den Leh­rern, die lieber unterrichten als coachen wollen und wissen, dass sie damit unendlich viel mehr be­wirken können.

Im NZZ-Interview gibt der erfahrene Basler Primar- und Kleinklassenlehrer Felix Christ pädago­gisch fundierte und menschlich überzeugende Antworten zum Problemkreis Integrative Schule / Kleinklassen. Auch den Nutzen und die Gefahren digitaler Geräte in der Volksschule ordnet er in seine Überlegungen ein.

Auch in weiteren Texten unserer Sammlung geht es um die zentrale Frage: Was braucht es, damit an unserer Volksschule eine gute Bildung für alle Kinder gewährleistet ist? Bei der Lektüre anderer Artikel denkt man unwillkürlich: Und welche Diskussionen lenken eher vom Wesentlichen ab? Wenden wir uns zuerst der zweiten Frage zu.

Diskussion um zeitliche Entlastung der Lehrkräfte verdeckt tieferliegende Probleme

Um die zeitliche Entlastung der Lehrkräfte ging es kürzlich im Zürcher Kantonsrat. Der Rat sprach ein paar Stunden mehr Zeit für die Vorbereitung des Unterrichts. Für mich als ehemalige Lehrerin spricht im Prinzip nichts dagegen, braucht man doch ohnehin viel mehr Zeit für die Vor- und Nach­bereitung, als man bezahlt bekommt. Bildungspolitiker Marc Bourgeois erinnerte jedoch richtiger­weise daran, dass die Probleme der Schulen tiefer liegen und nicht mit mehr Zeit oder Geld aus der Welt zu schaffen sind. Auch Carl Bossard kritisiert in seinem Artikel den undifferenzierten Ruf nach «mehr Geld, mehr Ressourcen», wie er auch von den Spitzen der Lehrer- und Schulleiterver­bände zu hören ist.

Notwendige Richtigstellungen zur Zürcher Bildungsdirektorin

Ein anschauliches Beispiel für die Ablenkung vom Wesentlichen liefert Bildungsdirektorin Silvia Steiner mit ihren Äusserungen im Tages-Anzeiger zum Thema Kleinklassen («Ich wäre für ein Handyverbot»). Sie und andere Bildungsverantwortliche wollen «ghaue oder gstoche» nicht zuge­ben, dass die Schulreformen der letzten Jahrzehnte ein Riesendesaster sind – also versucht man, die Bürgerinnen und Bürger an der Nase herumzuführen. Mit der Richtigstellung der gröbsten Böcke wenden wir uns gleichzeitig der Frage zu, welche Chance eine Kleinklasse für ein Kind bedeuten kann.

  • Kleinklassen seien teurer und bräuchten mehr Lehrkräfte: Es stimmt zwar, dass wir heute nicht sicher wissen können, ob die Förderklasseninitiative kostenneutral umgesetzt werden kann. Aber das darf kein Argument sein, wenn es um eine gute Bildung und eine gedeih­liche Zukunft für unsere Jugend geht. Wenn man ausserdem dabeihat, was die fragwürdige Total-Digitalisierung der Volksschule kostet, sind allfällige Mehrkosten für Förderklassen ein Klacks.
  • Behindertengleichstellungsgesetz und «UNO-Kinderrechtskonvention» (richtig: UNO-Behindertenrechtskonvention!) würden die Platzierung von Kindern in separaten Klassen verbieten.Auch die stete Wiederholung macht diese Fehlinterpretation nicht wahrer. Weder im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes noch im kantonalen Volksschulgesetz wird die ausschliessliche Integration / Inklusion aller Kinder vorgeschrie­ Immer wird mitein­bezogen, dass für die optimale Bildung des einzelnen Kindes ein separatives Bildungsan­gebot erforderlich sein kann. Dies ist auch der Sinn und Geist der Unesco-Erklärung von Salamanca von 1994 und des Übereinkommens der Uno über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
  • Separation sei «wie ein lebenslanges Verdikt» – will heissen, die Kinder würden ihr Leben lang unter der «Ausgrenzung» leiden. Das ist ein starkes Stück (besonders wenn man weiss, dass Frau Steiner weder eine Ausbildung noch Berufserfahrung als Lehrerin vorwei­sen kann). Felix Christ stellt richtig: «Wenn man glaubt, mit der Abschaffung der Kleinklas­sen beseitige man die Stigmatisierung, lügt man sich in die eigene Tasche. Für die meisten Kinder, die sich in der Schule schwertun, ist es in der Regelschule viel härter. Hier sind sie erst recht die Aussenseiter.»
  • «Schulinseln» oder «erweiterter Lernraum» als Patentlösung: In Wirklichkeit ist das wiederholte Abschieben von «schwierigen» Kindern in eine Aufbewahrungsstelle, wo von einer ruhigen Lernsituation und einem angeleiteten Lernen nicht die Rede sein kann, eine reine Verzweiflungstat. Sie demonstriert geradezu den dringenden Bedarf nach pädagogisch motivierten Lösungen.
  • Jugendliche aus Kleinklassen könnten in der Berufsbildung nur schwer integriert werden. Auch diese Behauptung wird durch häufige Wiederholung nicht richtiger, wurde sie doch durch zahlreiche erfahrene Oberstufen- und Berufsschullehrkräfte längst widerlegt. Felix Christ berichtet im NZZ-Interview, dass für seine Schüler immer(!) gute Anschluss­lösun­gen möglich waren, weil sie gezielt gefördert werden konnten und weil die Bereit­schaft der Arbeitgeber gross war, die gut vorbereiteten Kleinklassenschüler zu übernehmen.

Gerade für leistungsschwächere Jugendliche ist die duale Berufsbildung ein Segen. In meinen Be­rufsschulklassen traf ich immer wieder auf frühere Lernversager, die unter kundiger Anleitung im Betrieb und in der Schule aufblühten und beste Leistungen erbrachten. Eine KV-B-Schülerin aus der Sek C war zum Beispiel Klassenbeste und absolvierte später die BMS – und wie sie ihren Mit­schülerinnen geduldig knifflige Buchhaltungsaufgaben erklärte, war eine Freude! Eine Elektroprak­tikerin aus der Sonderschule schloss nach Sprachaufenthalten in der Romandie und in England eine KV-Lehre mit Spitzenresultaten ab.

Worauf es in der Pädagogik wirklich ankommt

Damit kommen wir zur zweiten Frage: Was braucht es, damit an unserer Volksschule eine gute Bil­dung für alle Kinder gewährleistet ist? Mit den tieferliegenden pädagogischen Fragen befassen sich in dieser Textsammlung neben Felix Christ auch Alain Pichard und Carl Bossard.

Alain Pichard hat im Condorcet-Blog das Referat der Basler Pädagogin und Primarlehrerin Chris­tine Staehelin an der Veranstaltung der Ostschweizer Kinderärzte in St. Gallen vorgestellt. In deren Fortbildungsreihe ging es diesmal um ein Thema aus dem Bildungsbereich, nämlich die Gegenüber­stellung «Lerncoach oder Bandenchef». Die Referentin ordnete die Rolle des Lerncoach in die herr­schende Bildungsideologie ein und erinnerte daran, dass dieser in Verbindung mit dem individuali­sierten, selbstorganisierten Lernen der Schüler auftritt. Was die Individualisierung für die Schüler wirklich bedeutet, schilderte Staehelin in alarmierender Klarheit: Die Schule gibt damit ihre Verant­wortung für die Bildung der ihr anvertrauten Kinder an diese selbst ab und tut so, als ob die Schüler frei über ihr Lernen entscheiden könnten. In Wirklichkeit ist dies in keiner Weise der Fall – sie wer­den durch den Lerncoach gesteuert, aber nicht pädagogisch angeleitet und unterrichtet. Im Klartext wird unsere Jugend im Stich gelassen und ihr Recht auf Bildung einer nicht menschengerechten Ideologie geopfert. Aber lesen Sie die scharfsinnigen und zugleich bedrückenden Ausführungen von Christine Staehelin selbst.

Das Schlusswort überlassen wir Carl Bossard, der klarstellt, dass unsere Schulmisere nicht mit Strukturreformen behoben werden kann. Vielmehr müssten wir uns «auf den Kern der Schule, auf lernwirksames Unterrichten», besinnen. Der Autor beschreibt auf seine ureigene Weise die «Tiefen­merkmale der Lernprozesse». Das kann man nicht zusammenfassen – geniessen Sie die Lektüre die­ses Artikels, der unseren Blick wieder auf eine gedeihliche Zukunft richtet. Oder mit Bossards Wor­ten: «Suivons la route!»

Viel Freude bei der Lektüre wünscht Ihnen

Marianne Wüthrich