Höchste Zeit, sich von pädagogischen Halbwahrheiten zu verabschieden
Pünktlich zum Schuljahrbeginn sind die Zeitungen voll mit Beiträgen über Schulthemen. Doch diesmal findet sich in der Tonalität der Texte ein Realismus, der aufhorchen lässt. Die Euphorie über den neuen Lehrplan ist starker Kritik gewichen, das selbstorganisierte Lernen gilt als ineffizient und das Modell der integrativen Schule wird als Überforderung für Klassenlehrkräfte erachtet. Dieser Umschwung in der Einschätzung der Bildungspolitik der letzten zwanzig Jahre ist erstaunlich, denn zentrale Forderungen aus der Schulpraxis wurden bisher kaum einmal erfüllt.
In zwei Interviews in den beiden grössten Zürcher Tageszeitungen nimmt der bekannte Erziehungswissenschafter Roland Reichenbach ziemlich unverblümt Stellung zu den brennendsten Fragen in der Volksschule. Was er zu Protokoll gibt, dürfte vielen Verantwortlichen in den Bildungsstäben gar nicht gefallen. In pointierten Aussagen kritisiert er einige der grossen Reformen und wundert sich, dass sich die Lehrerschaft nicht schon früher dagegen gewehrt hat.
Eine allgemeingültige Kritik mit einem ganzheitlichen Ansatz
- Der kompetenzorientierte Lehrplan ist überladen und schränkt mit seinen detaillierten Anweisungen den Gestaltungsspielraum der Lehrpersonen völlig unnötig ein. Der mit viel Vorschusslorbeeren eingeführte Lehrplan trägt nichts zu einem besseren Unterricht bei und schafft es auch nicht, die ungenügenden Deutschkompetenzen vieler unserer Schulabgänger zu verbessern.
- Die Individualisierung des Unterrichts durch selbstorganisiertes Lernen ist zu einem Schlagwort geworden, das grosse Verwirrung stiftet. Viele Schüler sind mit Lernmethoden, die eine hohe Selbstdisziplin erfordern, stark überfordert.
- Die vielfältigen Ansprüche des integrativen Schulmodells belasten die Lehrpersonen enorm. Es ist realitätsfern von der Schule zu fordern, dass für alle Schüler ein Platz in einer Regelklasse vorhanden sein muss.
- Noten abzuschaffen und auf Hausaufgaben generell zu verzichten, käme einem «Kapitalismus ohne Geld» gleich. Noten ergeben nur einen beschränkten Einblick ins Begabungsspektrum eines Kindes und Hausaufgaben sind sozial heikel. Doch beides einfach zu streichen, würde zu einem Abbau an Schulqualität führen.
Fussballtrainer und Dirigentin als pädagogische Leitbilder
In einem viel beachteten Essay über die Lehrerrolle erinnert Carl Bossard daran, dass Erfolge im Sport und in der Musik oft mit dem Wirken pädagogisch begabter Persönlichkeiten verknüpft sind.
Von Fussballtrainern und Dirigentinnen eines Orchesters könnte die schulische Pädagogik einiges lernen. Das Bild moderner Lehrpersonen als unauffällige Lerncoachs im Schulzimmer wird ihrer Führungsaufgabe in keiner Weise gerecht. Es ist schon eigenartig, dass die erfolgreiche pädagogische Arbeit von Trainern und Dirigentinnen die Lehrerbildung nur wenig beeinflusst hat. Ein Fussballtrainer motiviert sein Team für grosse Ziele, fördert die einzelnen Spieler in den Grundtechniken, übt die Spielzüge im gemeinsamen Training und stellt die Mannschaft taktisch auf die Herausforderungen des nächsten Matches ein. Er ist ein Lehrer im besten Sinn und verfügt über fussballerische und psychologische Kompetenzen.
Eine Dirigentin holt das Beste aus ihren Musikerinnen und Musikern heraus. Sie ist erfüllt von einem grossen musikalischen Werk, das es in unzähligen Musikproben gemeinsam zu erarbeiten gilt. Ihre Passion für die Musik und ihr Geschick im Umgang mit nicht immer einfachen Musikern gibt ihr eine natürliche Autorität. Carl Bossards Vergleich zwischen Trainer und Lehrer trifft ins Schwarze. Junge Lehrkräfte sollen mit Freude für ihren bedeutenden Auftrag vor ihre Klassen treten. Das braucht eine praxisnahe fachliche Vorbereitung und eine Ermutigung zu engagierter Klassenführung. Dafür ist in der Lehrerbildung mehr Zeit einzuräumen. Ziel muss es sein, die Lehrerpersönlichkeit umfassend zu fördern und dem Lehrerbild wieder klare Konturen zu geben. Die Rolle des farblosen Lernbegleiters hingegen gehört definitiv in die Mottenkiste.
Unser vierter Beitrag enthält einen ganzen Schatz an pädagogischen Perlen. Im Interview mit Eliane Perret in der Schweiz am Wochenende bestätigt die renommierte Heilpädagogin auf differenzierte Weise die zentralen Punkte der aktuellen Schulkritik. Es lohnt sich, ihre Aussagen zur schulischen Integration, zum Frühfranzösisch und zur Bedeutung der Ermutigung im Bildungsprozess im originalen Wortlaut zu lesen. Ihre aufbauende Kritik hat ein Echo in mehreren Leserbriefen gefunden.
Die Wende in der Bildungspolitik muss von der Schulpraxis aus erfolgen
Weil ein Heer engagierter Lehrkräfte den Karren unserer Volksschule durch den Schlamm gescheiterter Reformen brav weiterzieht, geht es noch immer vorwärts. Doch das ist ein unhaltbarer Zustand, denn die Erschöpfung vieler Lehrpersonen zeichnet sich deutlich ab. Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft beteuern zwar immer wieder, dass es primär die Lehrpersonen sind, die eine gute Schule ausmachen. Doch sie hören den Schulpraktikern offensichtlich nicht richtig zu, wenn diese deutliche Änderungen im Bildungsprogramm fordern. Nun aber ist ein Punkt erreicht, wo jedes Weitermachen im bisherigen Stil der Schule längerfristig grösseren Schaden zufügen wird.
Die Lehrerschaft muss aus der Rolle der stets brav Ausführenden ausbrechen und die Diskussion um eine gute Schule wieder auf Augenhöhe mit den Bildungsplanern und Schulpolitikern führen. Beim Lehrplan und bei der schulischen Integration hat es die Lehrerschaft leider verpasst, mit dem nötigen Selbstbewusstsein den Standpunkt der schulischen Praxis überzeugend zu vertreten. Doch aus der sich zuspitzenden Krise sollten endlich allseitig die richtigen Lehren gezogen werden: Einander wirklich zuhören und die angeschlagene Schule nach praxistauglichen Grundsätzen zielstrebig renovieren. Auf Lehrerseite sind mutige Persönlichkeiten aufgerufen, in der Bildungspolitik für einen im Kern freiheitlichen Lehrerberuf einzustehen und tragfähige Lösungen vorzuschlagen. Für die Seite der Bildungsplanung bleibt die grosse Hoffnung, dass eine neue Generation bereit ist, sich den vielen Herausforderungen zu stellen.
Liebe Leserinnen und Leser, unser Newsletter zum Schuljahrbeginn ist randvoll mit aussagekräftigen Interviews, klugen Analysen und gepfefferten Leserbriefen. Auf einige haben wir sie hingewiesen, andere prima Texte mussten aus Platzgründen unkommentiert bleiben. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre.
Hanspeter Amstutz