Ermutigende Denkanstösse aus der Schulpraxis
Es war ein Feuerwerk an pädagogischen Erkenntnissen, mit denen Allan Guggenbühl seine Zuhörer im Zürcher Glockenhof fesselte. Guggenbühls Erfahrung aus unzähligen Kriseninterventionen in Volksschulklassen gaben seinen erfrischend provokativen Aussagen eine hohe Glaubwürdigkeit. Manche seiner Thesen könnte man im Vergleich mit den aktuellen didaktischen Strömungen fast als revolutionär konservativ bezeichnen.
Für Allan Guggenbühl stehen die Lehrerpersönlichkeit und die Beziehungsdynamik in jeder Schulklasse im Zentrum seiner pädagogischen Überlegungen. Mit dieser Haltung ist er direkt am Puls des schulischen Alltags. Für ihn sind Schulklassen «halbchaotische Institutionen», die eine hohe Präsenz einer vielseitig kompetenten Lehrkraft erfordern. Er wünscht sich Lehrerinnen und Lehrer, die mit innerer Überzeugung eine Klasse führen und bereit sind, dem Schulgeschehen ihren Stempel aufzudrücken. Jugendliche haben Anrecht auf gemeinsames Lernen im Klassenverband, wo die Farbigkeit der Charaktere der Mitschüler sichtbar wird. In Klassengesprächen über eine Lektüre, beim sprachlichen Üben auf sportliche Weise oder beim gemeinsamen Singen erleben Schüler eine ganz andere Qualität des Unterrichts als beim abgeschotteten Lernen an Bildschirmen. Anerkennung innerhalb der Klasse zu finden hat für sie mehr Wert als sterile Belohnungen in einem Computerprogramm.
Wer trägt die volle Hauptverantwortung für eine Klasse?
Konkret fordert Guggenbühl eine starke Aufwertung der Arbeit der Klassenlehrkräfte. Es braucht nicht mehr Lehrpersonal mit kleinen Pensen, sondern Lehrerinnen, die bereit sind, die volle Verantwortung für ihre Klasse zu übernehmen. Das können sicher auch zwei befreundete Lehrerinnen sein, welche die Lektionen unter sich aufteilen. Guggenbühl hält hingegen wenig von einem Team-Teaching im gleichen Raum, da gemäss seinen eigenen Beobachtungen die Aufmerksamkeit für die Schüler abnehme. Es nütze wenig, wenn sich die beiden Lehrpersonen bei einem Fehlverhalten eines Schülers ein paar vielsagende Blicke zuwerfen würden und dann doch nichts geschehe. Eine Lehrerin, die allein in einem Raum stehe, mobilisiere ihre besten pädagogischen Kräfte, um zu «überleben». Klar, viel provokativer geht es nicht mehr, aber mit Aussagen dieser Art hat der erfahrene Konfliktmanager für eine ganze Reihe herrlicher Denkanstösse gesorgt.
Erfreulicherweise hat der Gründer des Condorcet-Bildungsblogs, Alain Pichard, eine Zusammenfassung des gehaltvollen Vortragabends geschrieben. Wie Sie im Bericht lesen können, war auch er fasziniert von den voll aus der Schulpraxis heraus entwickelten Thesen. Dabei ist ihm vor allem der Gegensatz zwischen den oft abgehobenen Ideen aus der Lehrerbildung und den aus der Praxis entwickelten Grundsätzen aufgefallen. Die Schule benötige keinen aus Hunderten von Kompetenzzielen konzipierten Lehrplan, sondern einen auf wesentliche Bildungsinhalte konzentrierten Bildungskanon. Es gehe nicht zuletzt um Kulturvermittlung durch Geschichten als Gemeinschaftserlebnis für ganze Schulklassen.
Der Schweizerische Lehrerverband (LCH) regt eine Bildungsoffensive an
Vergangene Woche trat der LCH mit einem Paket an Forderungen zur Behebung des Lehrermangels an die Öffentlichkeit. Mit deutlichen Worten wies die LCH-Präsidentin Dagmar Rösler darauf hin, dass der Mangel an Lehrpersonal kein kurzfristiger Engpass ist. Im laufenden Jahrzehnt muss mit einer jährlichen Verschärfung der Lage gerechnet werden.
Das präsentierte Massnahmenpaket des LCH enthält zweckmässige Forderungen, die aber nur zum Teil neu sind. Begrüssenswert sind die vorgeschlagenen Regelungen für die nachträgliche Ausbildung von Quereinsteigern. Heikel wird es jedoch, wenn der LCH deutlich mehr Personal für integrative Schulmodelle fordert, Lösungen mit Kleinklassen jedoch ablehnt. Bildung mit wachsenden Schülerzahlen benötigt mehr Geld, aber man muss sich schon fragen, ob bei den kostspieligen Inklusionsschulen nicht der Bogen überspannt wird. Totalinklusion erweist sich in der Praxis als Fass ohne Boden und wäre längst gestoppt worden, ständen nicht ideologische Barrieren im Weg.
Die LCH-Verbandsspitze hat angekündigt, dass ihre konkreten Vorschläge zur Behebung des Lehrermangels in Form von kantonalen parlamentarischen Initiativen umgesetzt werden sollen. Umso bedauerlicher ist es, dass die bereits gestarteten kantonalen Initiativen für die Wiedereinführung von Kleinklassen vom LCH nicht unterstützt werden. Die Präsidentin spricht zwar im NZZ-Interview von einem «gewissen Unbehagen» der Lehrerpersonen gegenüber dem integrativen Schulmodell. Sie geht davon aus, dass die meisten Lehrpersonen hinter dem Integrationsgedanken stehen und nicht zu Kleinklassen zurückkehren möchten. Hans-Peter Köhli und unser Redaktionsteam sehen dies ganz anders. Wir sind sicher, dass viele Lehrpersonen flexible Lösungen unter Einbezug von Kleinklassen begrüssen würden.
Erschöpfte Jugendliche als Herausforderung für Schule und Gesellschaft
Vielleicht ist Ihnen der Titel des Interviews mit Frau Rösler ins Auge gestochen. Es geht offenbar um nicht weniger als 56 Prozent gestresster Schüler, die an verschiedenen Formen von Erschöpfung leiden. Viele Teenager vergeuden Stunden in sozialen Netzwerken und fühlen sich durch einen überbordenden Informationsaustausch in einer Tretmühle. Andere leiden am spürbaren Druck ihrer Eltern, die Gymiprüfung bestehen zu müssen. Diese und weitere Stressfaktoren können Jugendliche tatsächlich stark belasten. Die Zunahme von Erschöpfungsdepressionen bei Jugendlichen ist auf jeden Fall ein Alarmzeichen.
Ganz so überraschend kommt diese Entwicklung nicht, wenn man sieht, welch medialem Feuerwerk unsere Jugend tagtäglich ausgesetzt ist. Wer fünf und mehr Stunden täglich am Handy verbringt, kommt kaum noch auf genügend Schlaf. Unterdessen weiss man, dass sich vor allem Mädchen im Netz stets von ihrer besten Seite her präsentieren müssen und unter den ewigen Vergleichen besonders leiden. Frau Rösler weist differenziert auf die komplexen Zusammenhänge bei der Entstehung depressiver Zustände hin. Sie ist sich bewusst, dass sich die Schule immer auf einer Gratwanderung zwischen dem Leistungsanspruch der Gesellschaft und der individuellen Belastbarkeit der Jugendlichen befindet.
Die Frage ist nur, wieweit die Schule diesem enormen Druck von aussen wirkungsvoll entgegentreten kann. Vielleicht müssten mutige Schulen beim Handygebrauch mit gutem Beispiel vorangehen. Es gibt ja bereits einzelne Schulen, die mit einem Handyverbot auf ihrer Anlage ein deutliches Zeichen für einen bewussteren Umgang mit den modernen Kommunikationsmitteln gesetzt haben. Die Erfahrungen mit solchen Einschränkungen sind überwiegend positiv und haben sich in vielen Fällen günstig auf die Schulleistungen ausgewirkt.
Schlussbouquet mit zwei Beiträgen voller bemerkenswerter Denkanstösse
Am Schluss des Newsletters haben wir zwei Beiträge, die spannende Inputs zu zwei Dauerbrennern der Schulpolitik enthalten. Der eine Text befasst sich mit der Aufwertung der Berufslehren. Es geht der Verfasserin darum, neben der Sicherung der Ausbildungsqualität in den Betrieben und den Berufsschulen zusätzliche Anreize für den Einstieg in die Berufslehren zu schaffen. Der andere Beitrag stammt aus der Feder von Carl Bossard und befasst sich mit einer sehr viel stärker auf die Schulpraxis ausgerichteten Lehrerbildung. Der anerkannte Zentralschweizer Bildungspionier führt uns in seinem spannenden Bericht in eine Lehrerbildungsinstitution, die völlig neue Wege geht.
Für die Redaktion der Starken Volksschule Zürich
Hanspeter Amstutz