Nicht vergessen:
Am Montag, 6. November 2023 um 19 Uhr,
Vortragsabend mit Allan Guggenbühl
im Glockenhof, Sihlstrasse 33, Zürich
30 Jahre Schulreformen, 1000 Jahre Lesen und Schreiben
In den letzten zwei Wochen war der Tod des früheren Bildungsdirektors Ernst Buschor Thema in den Zürcher Medien und auch im Condorcet-Blog. Unser Redaktionskollege Hanspeter Amstutz hatte als Mitglied der kantonalen Bildungskommission mit dem damaligen Bildungsdirektor Buschor zu tun, Alain Pichard erhoffte sich als junger linker Lehrer von Buschors «Schulprojekt 21» eine Aufbrechung «der starren Strukturen» der damaligen Schule. Später wurden beide Kollegen zu engagierten Kritikern vieler der pädagogisch nicht zu rechtfertigenden und für einen grossen Teil unserer Jugend abträglichen Schulreformen seit den 1990er Jahren.
Viele davon hat Ernst Buschor angestossen, und jeder Mandatsträger in den kantonalen Bildungsbehörden und Parlamenten, der nicht Stopp! gerufen hat, trägt die Verantwortung mit. Anzumerken ist, dass es bereits in den 1990er Jahren ernsthafte Gegenstimmen in der pädagogischen Lehre und Praxis gab, die vor den verhängnisvollen Folgen warnten, aber in die Ecke der «ewiggestrigen Bremser des Fortschritts» gestellt wurden.
Privatisierung des Service public als Ziel von Buschors ökonomischem Konzept
Was alle schon in den 1990er Jahren wissen konnten, daran erinnert der frühere Direktor des Think Tank «Avenir Suisse», Peter Grünenfelder*, in seinem bemerkenswerten Nachruf in der NZZ. Ernst Buschor hatte keinerlei pädagogischen Hintergrund, sondern war Betriebswirtschafter und Finanzspezialist, der «den öffentlichen Sektor umfassend zu modernisieren gedachte» und sein Konzept dafür aus Kalifornien mitbrachte. Mit «Modernisierung des öffentlichen Sektors» meint Grünenfelder die Privatisierung des Service public gemäss GATS-Abkommen, das heisst die schrittweise Liberalisierung des Marktzugangs für in- und ausländische Dienstleistungsanbieter. Die Einführung des New Public Management im Gesundheits- und Bildungswesen diente also dem Ziel, den qualitativ hochstehenden Schweizer Service public, der nach dem Willen der Bürgerinnen und Bürger in die öffentliche Hand gehört, zu privatisieren, mit entsprechender «Öffnung» für ausländische Anbieter.
*Peter Grünenfelder hatte bei Ernst Buschor an der HSG doktoriert und war in den 1990er Jahren sein persönlicher Mitarbeiter. Avenir Suisse, dessen CEO Grünenfelder von 2016 bis zum Juli 2023 war, wurde 2001 von den wichtigsten Schweizer Grosskonzernen gegründet, um die Privatisierung des Service public und die Einbindung der Schweiz in die EU voranzutreiben.
Gegenwehr der Zürcher Bevölkerung
Nur einmal gelang es im Kanton Zürich, dass die Gegner nachteiliger Schulreformen sich über alle Parteigrenzen hinweg und aus verschiedenen Bürgergruppen erfolgreich zusammentaten und eine Buschor-Reform zu Fall brachten: Das Zürcher Volksschulgesetz wurde 2002 vom Zürcher Volk an der Urne abgelehnt und damit die Grundstufe (Zusammenlegen des Kindergartens und der Unterstufe der Primarschule) verhindert. Eine Ermutigung für alle Schweizer, ihre direktdemokratischen Rechte wahrzunehmen. Aber es hätte einen längeren Atem gebraucht. Bereits zweieinhalb Jahre später brachte der Regierungsrat einen neuen Entwurf für ein Volksschulgesetz, diesmal ohne Grundstufe, das vom Volk angenommen wurde. Mit dem einige Zeit später aufgegleisten Lehrplan 21 wurde dann die Zusammenlegung des Kindergartens und der Unterstufe durchgedrückt – gegen den Volkswillen. Manchmal könnte man schon aus der Haut fahren!
Frühfremdsprachen: Forschungsresultate übergangen, Forscherin entlassen
Auf Buschors Konto geht besonders die Misere der Frühfremdsprachen in der Primarschule. Mit dem Frühenglisch im Köfferli kam er aus den USA zurück und setzte es im Metropol-Kanton Zürich an den Landessprachen und an allen Veto-Playern vorbei durch. Der Rest des Landes folgte dieser unheilvollen Spur, auch noch nach den Forschungsergebnissen der Linguistin Simone Pfenninger von 2014, wonach Frühfremdsprachen nichts bringen. Sie hatte die Englischkenntnisse von 500 Zürcher Gymnasiasten zu Beginn und am Ende ihrer schulischen Ausbildung untersucht. Die einen Schüler hatten bereits seit der Primarschule Englischunterricht, die anderen fingen erst in der Oberstufe damit an. Pfenninger fand heraus: Schon nach sechs Monaten hatten die meisten Spätlerner den Vorsprung der Frühlerner eingeholt. Kurz vor der Matura fand die Linguistin keinerlei Unterschiede mehr. Was nun folgte, ist ein absoluter Skandal: Die Studienresultate wurden von den Schweizer Bildungsbehörden übergangen, und die Forscherin war an der Uni Zürich nicht mehr genehm und musste nach Wien wechseln.
Dass heute 20 Prozent unserer Schulabgänger die Grundlagen der deutschen Sprache nicht beherrschen, ist mindestens zum Teil das Resultat davon, dass die Kinder – nicht nur die fremdsprachigen – nicht zuerst in Ruhe und mit genügend Zeit zum Üben und Vertiefen deutsch lesen und schreiben lernen können, bevor sie mit weiteren Sprachen überflutet werden.
Einmal mehr: Smartphones beeinträchtigen die Entwicklung der Jugend
Eigentlich sollte es allmählich allen Eltern und Lehrern bekannt sein, dass ein übermässiger Handy- oder Tablet-Gebrauch die verschiedensten negativen Auswirkungen auf unsere Kinder und Jugendlichen hat. Zwei Artikel aus Condorcet bestätigen diese Erkenntnis. Im ersten wird eine Studie vorgestellt, wonach die häufige Beschäftigung mit dem Handy vor allem die Konzentrationsfähigkeit einschränkt, aber auch die Aufmerksamkeit, die Gedächtnisleistung sowie die manuelle Geschicklichkeit, und nicht zuletzt das soziale Miteinander. Wissenschaftler wie Klaus Zierer oder Manfred Spitzer empfehlen seit langem ein Verbot oder mindestens die Kontrolle des Handygebrauchs zu Hause und in der Schule, wenigstens für Primarschüler. Im zweiten Artikel geht es konkret um ein Handy-Verbot in deutschen Schulen.
Aber wie soll man das durchsetzen, wenn die Eltern selbst am Smartphone hängen, statt mit ihren Kindern zu sprechen oder etwas mit ihnen zu unternehmen? Wenn in Zeitungsartikeln das Ausschalten des Handys als «vorbildliches Verhalten» der Eltern oder anderer Erwachsener empfohlen wird, greift das meines Erachtens zu kurz. Aufgabe der Eltern ist es, ihre Kinder ganz konkret ins Leben einzuführen, mit ihnen in die Natur zu gehen, ihnen vorzulesen, mit ihnen zu kochen oder ein Velo zu reparieren und vieles mehr. Wenn die Kinder sich nur mit einer App im Verkehr orientieren können, statt den Busfahrplan und den Stadtplan lesen zu lernen, zeigt das ein Versagen von uns Erwachsenen.
Bücher lesen und in Bibliotheken stöbern
Erinnern Sie sich an den Bericht aus Schweden, den wir vor einigen Wochen vorgestellt haben? Dort sollen die Kinder in der Volksschule Bücher lesen und von Hand schreiben, damit die zunehmende Leseschwäche gestoppt werden kann.
Bücher haben uns aber noch weit mehr zu bieten. Es geht auch darum, bei der Jugend die Faszination für die Schätze zu wecken, die in den Büchern zu entdecken sind und mit ihnen ab und zu in einer Bibliothek zu stöbern. Carl Bossards Artikel über die Bibliotheken der Schweizer Klöster steht vielleicht nicht direkt im Zusammenhang mit dem Lesen in der Volksschule, aber sein Bogen zu unserer Kulturgeschichte ist für den Leser bereichernd. Die Wertschätzung des Buches und unserer Schul- und Gemeinde-Bibliotheken beim Jugendlichen zu legen, gehört zu den Aufgaben der Lehrerin.
Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal den Fremdwörterduden in die Hand genommen, um die Bedeutung eines Wortes nachzuschauen? Mit Googeln geht es viel schneller. Beim Schreiben von Texten suche ich zum Beispiel ab und zu im Internet nach einem Synonym, einem Wort mit ähnlicher Bedeutung anstelle eines bestimmten Begriffes.
Für ein Kind stellt sich die Aufgabe ganz anders: Genauso wie es mit einer Navigations-App nicht lernt, sich im Ort oder im Quartier zu orientieren, muss es auch zuerst den Duden kennenlernen, bevor es verschiedene Begriffe im Internet vergleichen kann. Mit meinen Berufsschulklassen habe ich jeweils im ersten Lehrjahr geübt, was man mit dem Wörterbuch alles über einen Begriff herausfinden kann. Zuerst mussten wir meistens das Alphabet repetieren, viele hatten es in der Volksschule nicht verinnerlicht. In einem nächsten Schritt hat die Schulbibliothekarin meine Klasse in unsere Büchersammlung eingeführt, und danach gab ich den Schülern den Auftrag, ein Sachbuch / oder einen Roman auszuwählen, den sie zu Hause lesen und dann der Klasse vorstellen sollten. Beim einen oder anderen ist es gelungen, dass er Freude am Lesen bekam und künftig die Schulbibliothek nicht nur besuchte, um einen der dortigen Computer zu nutzen!
Nun wünsche ich Ihnen viel Freude am Stöbern in unserer Textsammlung.
Marianne Wüthrich