Liebe Leserinnen und Leser
Auch im neuen Schuljahr hat die Diskussion «Berufslehre oder Gymnasium?» bereits wieder angefangen, verbunden mit dem Problem des Fachkräftemangels. Gleichzeitig kündigen sich schon in der ersten Schulwoche die zu erwartenden negativen Auswirkungen der KV-Reform auf den Lernerfolg der Jugendlichen und damit auf den Schweizer Wirtschaftsstandort an. Und schliesslich landen wir dort, wo alles angefangen hat: bei den untauglichen Reformen unserer Volksschule und den seltsamen Blüten, die diese treiben. Ist es wirklich so schwer, zwei und zwei zusammenzuzählen und die richtigen Siebenmeilen-Stiefel anzuziehen? Den positiven Ausblick zum Ausklang bilden die drei Veranstaltungshinweise: Hier melden sich engagierte Pädagogen und andere Fachleute zu Wort, die an die unverzichtbaren Grundlagen einer kindgemässen Erziehung und Bildung erinnern.
Ein Hoch auf die altmodischen Lehrer!
Zum Auftakt ein kleiner, aber feiner Leserbrief zum ermutigenden Erfahrungsbericht des Mathematiklehrers im letzten Newsletter, der jedem Schüler zutraut, dass er Mathe lernen kann und bei dem deshalb praktisch jede Schülerin mit Freude Mathe lernt. In wenigen Worten fügt die Leserbriefschreiberin alle wesentlichen Elemente eines erfolgversprechenden Unterrichts zusammen. So sollte die Schule sein, in der unsere Jugend sich das Rüstzeug für ein erfülltes Leben aneignen kann.
Schweizer Fachleute sind sich einig: Duale Berufsbildung bleibt der Königsweg
Eine sogenannte «Bildungsexpertin» hat kürzlich eine spannende Debatte in Gang gebracht. Das Interview im Tages-Anzeiger mit Gita Steiner-Khamsi lohnt sich kaum zu lesen, aber die Widerreden im Tagi, im Nebelspalter und in der NZZ haben es in sich.
Frau Steiner-Khamsi will den Fachkräftemangel mit einer höheren Akademikerquote beheben, zu diesem Zwecke sollen Schüler dafür bezahlt werden, ans Gymnasium zu gehen. Uni-Studenten sollen ebenfalls mit Geld zum «richtigen» Studium gelenkt werden. (Daniel Wahl im Nebelspalter vom 23.8.). Die weiteren «faktenfreien Argumente» der Dame kann jeder selbst lesen, wenn er mag.
Einer, der es besser weiss, ist Rudolf H. Strahm. Sein neues Buch «Karriere mit Berufsbildung» ist sicher lesenswert, seine bisherigen Standardwerke «Warum wir so reich sind» und «Die Akademisierungsfalle» sind mir jedenfalls in bester Erinnerung. Strahm ärgert sich besonders über die Falschbehauptung Steiner-Khamsis, die universitäre Ausbildung sei billiger als die Berufsbildung mit Fachhochschule. Und er weist ein weiteres Mal darauf hin, dass die tiefen Schweizer Arbeitslosenzahlen dem hohen Prozentsatz der Berufslehren und der Höheren Berufsbildung zu verdanken sind.
Fachkräftemangel ist nicht primär Folge des Akademikermangels
Interessant ist auch die Erkenntnis in den Repliken zu Steiner-Khamsi, dass mit mehr Schweizer Akademikern der Fachkräftemangel noch lange nicht behoben ist. Zum einen fehlen auch in vielen Lehrberufen genügend Fachleute, um unsere Infrastruktur und unsere hohen Ansprüche an eine störungsfrei laufende Versorgung zu garantieren. Zum anderen werden die «falschen» Akademiker ausgebildet: Die Schweizer Universitäten sind übervoll mit Phil I-Studentinnen, während die dringend benötigten Ärzte durch den Numerus Clausus verhindert werden. Katharina Fontana spinnt in ihrem Artikel («Zu viel Dünkel, zu viele Dogmen») den Faden weiter, lesen Sie selbst.
Zu bemerken ist ausserdem, dass die Unmengen von Psychologen, Soziologen und Politologen nach ihrem Studium nur zum kleinen Teil arbeitslos sind (was ihnen ja auch zu gönnen ist). Die meisten kommen in Beratungs- und Organisationsentwicklungs-Büros unter, oder sie bevölkern die überquellenden Verwaltungsblasen im Bund, in den Kantonen und Gemeinden und die Lehrstühle an den Hochschulen – auf Kosten des Steuerzahlers.
KV-Reform zum Schaden unserer Jugend und unserer Wirtschaft
Wertschätzung für die duale Berufsbildung ist das eine, die Übernahme der Verantwortung für eine lebenstaugliche Bildung unserer Jugend müsste das andere sein. Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass 20 Prozent der Schweizer Schulabgänger nicht genügend lesen, schreiben und rechnen können, um eine Lehre zu machen. Dazu kommt bei vielen der Mangel an minimalen Umgangsformen, an Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsgefühl.
Wie ist es angesichts der bereits heute prekären Situation möglich, dass Schweizer Unternehmer einer Reform der kaufmännischen Lehre zugestimmt haben, welche die höchstangesehene und beliebteste Berufslehre der Schweiz innert weniger Jahre in den Keller fahren wird? Von den Schweizer «Bildungsexperten», die seit Jahrzehnten am Werk sind, folgte eine weitere enttäuschende Reform – aber wie können die Unternehmer einem völlig unausgegorenen Umbau zustimmen?
In unserem Newsletter haben wir die geplante Abschaffung der Fächer und des Klassenunterrichts sowie deren Ersetzung durch sogenannte «Kompetenzen» und selbstorganisiertes Lernen (SOL) im KV – analog zur Volksschule – während der Planungsphase immer wieder kritisiert. Jetzt ist die Reform Wirklichkeit: Statt im Klassenunterricht Deutsch zu lernen, sollen sich die KV-Lehrlinge in selbstorganisierten Projekten mit dem «Handeln in agilen Arbeits- und Organisationsformen» befassen. Statt sich das System der doppelten Buchhaltung, das Vertragsrecht, die Grundlagen der Volks- und Betriebswirtschaft und viele weitere Kenntnisse anzueignen, die für den kaufmännischen Beruf unverzichtbar sind, steht das «Gestalten von Kunden- oder Lieferantenbeziehungen» auf dem KV-Bildungsplan. Aber lesen Sie selbst («Am KV Zürich ist der Deutschunterricht passé»). Den Lehrlingen die genannten Kompetenzen zu vermitteln, ist übrigens nicht die Aufgabe der Berufsschule, sondern der Betriebe.
Der Geschäftsführer des Zürcher Bankenverbands, Christian Bretscher, sagt zwar, falsches Deutsch «geht überhaupt nicht», glaubt aber, die Berufsschule werde «das Beste aus den Vorgaben machen»(!) Im Übrigen werde die Finanzbranche halt in erster Linie KV-Lehrlinge mit Berufsmatur ausbilden, da bleiben die Fächer und ein vom Lehrer geführter Unterricht bestehen. Aber auch ohne BM war das KV bisher eine sehr gute Ausbildung. Die können wir doch nicht derart in den Keller fahren lassen!
Die «bauliche Voraussetzung» für dieses schädliche Konzept ist der anonyme Grossraum wie zum Beispiel in Uster, mit Sitzsäcken statt Stühlen – soll wohl originell sein, aber für den Rücken und die Konzentration weniger schlau. Auch andernorts, zum Beispiel in Wil SG, spriessen die «Lernlandschaften» aus dem Boden. Alles schon aus der Volksschule bekannt.
Zurück an den Anfang: Die Schäden der Schulreformen an der Volksschule beheben
Für eine Bildung unserer Jugend braucht es nicht «offene Räume», sondern das gemeinsame Lernen mit den Mitschülern und eine Lehrerin, die sich mit ihrer Klasse auf den Weg des Lernens macht, mit den Kindern die Hürden nimmt und sich mit ihnen über ihre Lernschritte freut. Je früher diese Erkenntnisse – die einige von uns immer und immer wieder über den Newsletter, durch Artikel und Leserbriefe, in Büchern und an Vortragsabenden anmahnen – bei den Bildungsverantwortlichen ankommen, desto besser für unsere Jugend, unsere Wirtschaft und unser auf dem Milizprinzip fussendes Staatswesen.
Zum Schluss zwei der unguten Auswirkungen der Schulreformen. Die eine ist die abstruse Idee aus kantonalen Bildungsverwaltungen, die Schulpflicht bereits für Dreijährige einzuführen, nämlich in Form von obligatorischen Sprachkursen für Kinder mit zu wenig Deutschkenntnissen. Laut Bundesgericht soll der Staat die Kosten – und somit die elterliche Verantwortung schon bald ab der Geburt? – übernehmen. Dazu ist nur zu bemerken, dass 11 Schuljahre (mit dem Kindergarten) eigentlich auch für Kinder mit wenig Sprachkenntnissen genügen sollten, um Deutsch zu lernen. Früher jedenfalls war das so. Wenn die heutige Schule dazu nicht taugt: Zurück zum Anfang (damit sind nicht die Neandertaler gemeint, sondern ein Schulsystem, wo die Kinder lernen und die Lehrer lehren.)
Die zweite Auswirkung ist die hier schon öfter beklagte ausufernde Schulbürokratie, die ganz besonders in kleineren Landgemeinden kaum mehr einen bezahlbaren Schulbetrieb möglich macht. Auch hier: Zurück zum Anfang. Man muss nicht alles und jedes digitalisieren und formalisieren. Je überschaubarer die Verhältnisse, desto leichter, und erst noch persönlicher, können die Lehrkräfte und die Behörden viele Dinge mit ein paar Worten in der Pause oder am Telefon erledigen.
Den Abschluss überlassen wir einem der vielen erfahrenen Lehrer mit seinem Leserbrief zur «Chancengleichheit» und zur «Chancengerechtigkeit». Wie immer wir es nennen wollen: In der Sache geht es um «hoffnungslose Fälle», die beim Autor zu erfolgreichen Schulabgängern geworden sind, und es geht darum, dass wir in der Schule «echte Bezugspersonen», benötigen, die «genügend Zeit für einen angemessenen Unterricht haben».
Damit hoffe ich, dass Sie «gluschtig» geworden sind auf den einen oder anderen der Texte unserer Sammlung.
Für die Redaktion: Marianne Wüthrich