Die Abenteuer des Robinson Crusoe oder die Schiffsbrüche der Reform-Politik
Das deutsche Wort «Reform» bildet sich aus den lateinischen Wörtern re: zurück und formare: bilden. Bei einer Reform sollte es also um eine Verbesserung eines aktuellen Zustands gehen. Betrachten wir die zahlreichen Reformen an den Volksschulen in der Schweiz während der letzten Jahrzehnte, so könnte man glatt meinen, die Schweizer Volksschule hätte sich in den 90er Jahren in einem hoffnungslosen Zerfall befunden und hätte seither durch zahlreiche Reformen «gerettet» werden müssen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Nicht, dass früher alles besser gewesen wäre an den Volksschulen, doch mit Sicherheit befand sie sich in einem besseren Zustand als heute. Unsere Artikelauswahl beleuchtet, was aus unserer Volksschule geworden ist.
Den Unterricht wieder ins Zentrum stellen und den Horizont erweitern
In zwei Interviews mit dem Nebelspalter-Journalisten Daniel Wahl gibt der Pädagoge Jürgen Oelkers einen eindrucksvollen Kommentar über die negative Wirkung der zahlreichen Reformen. Sie vernachlässigten genau das, was im Zentrum der Schule stehe: der Unterricht der Lehrpersonen.
Obwohl die Zahl der Diplome und Zertifikate in der Schweiz stetig zunimmt, sind wir nicht gescheiter – im Gegenteil: 20 Prozent der Absolventen gehen als funktionale Analphabeten von der Schule. Für die Erziehungswissenschafterin und Schulpflegerin Béatrice Di Pizzo ist der Grund dieser Diskrepanz klar: «Es werden Kompetenzen ohne Bildung vermittelt.». Carl Bossard doppelt mit dem Zitat des Philosophen Hans Blumbergs nach: «Bildung sei kein Arsenal (von Zertifikaten und Diplomen), Bildung sei ein Horizont.» Es wäre höchste Zeit, den Horizont an den Schulen zu erweitern! Doch einfacher gesagt als getan, denn «ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst.»
Tragikomödie an unseren Schulen
Die Auswirkungen der Integrationspolitik an unseren Schulen schildert der Sekundar- und Berufsschullehrer Raymond Diepold über seine Sekundarschule B in Stichworten, die der Journalist Daniel Wahl als «mit höchstem Unterhaltungswert» umschreibt. Seine Klasse sei ein Ort, «wo nur noch Arbeitsblätter eingesetzt werden, weil die Schulbücher keinen Tag im Klassenraum unbeschädigt überstanden hatten» oder «wo Schüler während der Stunde auf Toilette gehen und nicht wieder zurückkommen» oder «wo ihn die Schulleitung dazu verpflichtet hat, am Abend das Geschehene nachvollziehbar zu protokollieren und auf jeden Fall das Positive zur erwähnen.» Der «integrierte Schulalltag» scheint wahrhaft zu einer Tragikomödie verkommen zu sein. Und zu allem obendrauf sollen die Lehrpersonen nun in diesem Theater «als Lerncoaches die Kinder auf Augenhöhe begleiten». Carl Bossard hält gekonnt dagegen: «Wer so argumentiert, vergisst das asymmetrische Verhältnis von Unterricht und Schule – und nicht zuletzt die Bedürfnisse der Lernenden.» Kinder brauchen Vorbilder, die Verantwortung vorleben und so den Kindern beibringen, selbst einmal Verantwortung im Leben zu übernehmen.
Das vergessene Glied in der Kette
Was im schrillen Reform-Geschrei und dumpfen Ächzen des Schulalltags oftmals untergeht, sind die Rolle der Eltern resp. das Zuhause der Schulkinder. Eine Grundlage für gutes Lernen sei die Bindungssicherheit, so Beat Kissling. Leider treten immer mehr Kinder mit Bindungsstörungen in das Schulsystem ein. Die Folgen davon sind zum Beispiel ein unkontrollierter Medienkonsum, wie Jürgen Oelkers schildert. Die Schulen seien aber nicht in der Lage, solche Kinder aufzufangen – schon gar nicht, wenn die Lehrpersonen permanent damit beschäftigt sind, den Unterricht zu arrangieren und zu organisieren.
Gendersprache, das Sternchen auf dem «i»
Für Carl Bossard ist die Institution Schule zu einem Verwaltungsbüro geworden. Und dass in der «erfahrungsverdünnten Luft der Dachterrassen» immer mehr die Realität zum Bodenpersonal des «Schulparterres» fehlt, zeigt exemplarisch der zerstörerische Eingriff in die deutsche Sprache durch die Suche nach einer gendergerechten Sprache. Nach den Erläuterungen des Germanisten Mario Andreotti zum Thema wird klar: Wozu soll etwas repariert werden, das gar nie kaputt war? (Wie das englische Sprichwort sagt: «Don’t try to fix what has never been broke.») Oder kommt dieses Scheinproblem den Politisierenden wohl gerade recht, die Lehrenden und Zur-Schule-Gehenden mit diesem Scheinproblem abzulenken?
Eine Lageanalyse tut not
Was hat der berühmte Robinson Crusoe mit der Reform-Politik gemeinsam? Carl Bossard findet die wichtige Parallele zwischen dem Schiffbrüchigen und der Bildungspolitik: «Wie bei Robinson braucht es eine ungeschönte Lageanalyse.» Was denn die Schule belastet, liegt bereits lange auf der Hand – wir finden die Punkte sowohl bei Oelkers als auch bei Bossard: Es sind diese «zusätzlichen Anforderungen, die dem Unterricht nichts bringen», es ist diese «üppige Bürokratie», der «Papierkram». Für Bossard ist klar: «Gute Pädagogik und Bürokratie passen nicht zusammen.» Es ist es also Zeit, das gestrandete Schulwrack zu kontrollieren und sich einen Überblick zu verschaffen, Inventur zu machen und die Lage zu analysieren. Hoffen wir, dass die Bildungsverantwortlichen dem Beispiel Robinsons folgen werden. Denn «Schiffbrüchige sind sonst die Schulkinder.»
Ich wünsche Ihnen eine abenteuerliche Lektüre. Wir melden uns nach der Sommerpause Ende August mit dem nächsten Newsletter wieder.
Für die Redaktion Starke Volksschule Zürich
Timotheus Bruderer