Luft und Raum für die Lehrer, lebenstaugliche Bildung für die Kinder
Was ist doch der Lehrerberuf für eine anspruchsvolle Aufgabe, sinnierte ich wieder einmal, nachdem ich die Texte der vorliegenden Sammlung gelesen hatte. Wenn das nur unsere Bildungsbehörden zur Kenntnis nähmen…
Auf den Lehrer kommt es an
«Auf den Lehrer kommt es an», hat John Hattie mit seinen gross angelegten Studien akribisch belegt. Beat Kissling würdigt Hatties Beitrag zur heutigen Pädagogik in einem seiner beiden tiefgründigen Artikel mit Recht. Vielen von uns war dieser zentrale Grundsatz der Pädagogik schon vorher bekannt, aber Hatties Verdienst ist es, dass seine überwältigenden Beweise von den Schulreformern eigentlich nicht mehr in den Wind geschlagen werden können (manche tun es bekanntlich trotzdem!).
Im Lehrerstudium haben die meisten von uns älteren Semestern die Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit für die Kinder und Jugendlichen, die uns anvertraut wurden, von unseren Ausbildnern gelernt, und diese von ihren eigenen Ausbildnern. Mit «gelernt» meine ich nicht nur «gehört», sondern «miterlebt»: Wie die erfahrene Lehrerin einen Schüler anpackt, der «nicht lernen will», sondern Kapriolen macht, wie sie es mit einem anderen ganz anders führt, wie sie ihre Klasse mitnimmt zum gemeinsamen Erarbeiten des Schulstoffes und ihnen den Weg zeigt zu einer lebendigen und mitmenschlichen Klassengemeinschaft. Glücklich der heutige Junglehrer, der von einer «geeichten» Kollegin eingeführt wird in die Grundlagen des Unterrichtens und der Klassenführung, und der seine Fragen zum Umgang mit «schwierigen» Schülern mit erfahrenen Kollegen diskutieren kann. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen – und auch, dass nicht jeder denselben Schüler schwierig findet. Diese Basis zu legen, wäre die Aufgabe der Pädagogischen Hochschulen – aber die sind mit dem Training von Gross-Lernraum-Managern beschäftigt.
Bildung als Rüstzeug fürs Leben unmissverständlich einfordern
Kürzlich sagte Stefan Wolters, oberster Bildungs-Ökonom des Bundes, 15 bis 20 Prozent der Schweizer Schulabgänger seien nicht fähig, eine Berufsausbildung zu schaffen. Vor einigen Jahren antwortete derselbe Herr in einem Zeitungsinterview auf die Frage, was 20 Jahre Schulreformen gebracht hätten: «Wir wissen es nicht.»
Ist das nicht ungeheuerlich? Die sogenannten «Bildungsexperten» geben offen zu, dass sie die Bildung unserer Jugend heruntergefahren haben und nicht einmal Buch führen darüber, und unsere kantonalen Verantwortlichen fahren unsere einst gute Schule seelenruhig weiter in die Sackgasse. «Störet meine Kreise nicht», charakterisiert Carl Bossard diese Haltung treffend. Eine Privatperson darf sich ja in dieser Weise einigeln, nicht aber dürfen das unsere Regierungsräte, insbesondere die Bildungsdirektorinnen. Zusatzfrage: Warum gibt im Berner Bildungskuchen ein Ökonom den Ton an?
Ist es nicht verrückt, dass sich unser Kollege Hanspeter Amstutz fast auf den Kopf stellen muss, um den Bildungs-Bürokraten zu erklären, warum ein fundierter Geschichtsunterricht für unsere Jugend unverzichtbar ist? Ist es nicht hanebüchen, wie unprofessionell und kenntnisarm der Zürcher Regierungsrat das Postulat der Kantonsräte Nina Fehr Düsel und Rochus Burtscher für einen Geschichtsunterricht, der diesen Namen verdient, abschmettert? Die «Kompetenzorientierung» des Lehrplan 21 bedeute «keine Abkehr von fachlicher Wissens- und Kulturbildung», so der Regierungsrat. Oh doch! Geschichtliche «Einsichten» kann man nicht selbstorganisiert, anhand von vorgesetzten «Beispielen», erwerben, wie die Zürcher Bildungsdirektion behauptet beziehungsweise der Lehrplan 21 vorschreibt. Geschichte ist eine Materie, der man sich nur aufgrund ihres Ablaufs über die Jahrhunderte und Jahrtausende und der Kenntnis der jeweiligen Hintergründe annähern kann. Das Verständnis für historische Zusammenhänge kann man nicht googeln, das kann nur eine Lehrerpersönlichkeit mit umfassender Bildung weitergeben.
Lehrfreiheit für die Lehrer, echte Chancengleichheit für die Kinder
Unerlässlich ist es auch, dass die Lehrerin genügend Zeit, Raum und Lehrfreiheit hat für ihr Kerngeschäft, die Vermittlung der Grundlagen in Geschichte und Deutsch und Mathematik. Ist es nicht verrückt, dass erprobte Pädagogen wie Carl Bossard pausenlos die Befreiung der Lehrer von administrativem Ballast und überfrachteten Lehrplänen einfordern müssen, damit unsere Lehrerinnen wieder zum Atmen kommen?
Es ist ein Armutszeugnis, dass unsere Bildungsverantwortlichen nicht bereit sind, längst erhärtete pädagogische und psychologische Erkenntnisse zur Kenntnis zu nehmen. Zum Beispiel, dass alle Kinder und Jugendlichen Lehrer brauchen, die mit ihnen in Beziehung treten, ihnen den Schulstoff, «die Welt» erklären (Carl Bossard). Oder dass alle Schüler, ob sie nun gut und konzentriert lernen oder durch eine Lern- oder Verhaltensstörung beeinträchtigt sind, «dieselben emotionalen und sozialen Grundbedürfnisse haben» (Beat Kissling). Oder dass es nicht der Schultyp ist, der stigmatisierend wirkt, sondern dass es auch hier auf die Lehrerin ankommt, auf ihre eigene innere Einstellung, die Beziehung zum Kind (Eliane Perret).
Ein Zeichen von Reife wäre es hingegen, wenn unsere Bildungsverwalter ihre Irrläufe beenden und eine kindgerechte Schule in Angriff nehmen würden. Jedes Kind hat das Recht auf seine Chance, und es ist vielfach erwiesen, dass die Integration oder Inklusion in die Regelklasse für viele Kinder weniger Chancen auf ein später selbstbestimmtes Leben bringt als eine vorübergehende Einschulung in eine Klein- oder Förderklasse, wo es adäquat gefördert wird, um möglichst wieder in die Regelklasse zurückkehren zu können.
Am selben Strick ziehen
Zu den «besserwisserischen» Eltern: Natürlich gibt es solche, wie es auch unter den Lehrern oder anderen Leuten Besserwisser gibt. Aber selbstverständlich haben die Eltern das Recht – und die Pflicht – sich einzuschalten, wenn sie das Gefühl haben, ihr Kind werde in der Schule nicht richtig eingeschätzt oder gefördert. Die Lehrer wiederum benötigen Verständnis für den natürlichen Wunsch der Eltern, dass ihr Kind eine gute Ausbildung erhält. Und sie benötigen Unterstützung von ihrer Schulleitung und den Behörden, wenn die Zusammenarbeit mit den Eltern harzt.
Am allerbesten für jedes Kind ist es, wenn es gelingt, dass Eltern und Lehrer am selben Strick ziehen.
Fazit: Wenn alle diese Notwendigkeiten zur Realität werden – Warum sollten dann gute, motivierte Pädagogen ihren Beruf aufgeben?
Wir wünschen Ihnen viel Genuss beim Lesen. Vor allem die Ausführungen von Eliane Perret, Carl Bossard, Hanspeter Amstutz und Beat Kissling sind pädagogisch/psychologische Leckerbissen!
Marianne Wüthrich