Die Gebote der Stunde lauten «Back to the Future» und «Back to the Roots»
Die Beziehung zwischen Lehrperson und Kind zieht sich wie ein roter Faden durch den Unterricht und die Schulbildung, sie ist wie das Fundament und Gerüst, das das «Lerngebäude» trägt. Eine starke Beziehung ist das entscheidende Element, welches Bildung effektiv, nachhaltig und am Ende auch zu einem freudigen Erlebnis macht. Unser «Auftakt-Artikel» belegt dies auf eine fast schon dramatische Weise. Die Lehrerin Mirella Bravasso beweist, dass Unterricht auch mit Kindern möglich ist, die aus einem beeinträchtigten Familienumfeld kommen. Max Knöpfel fasst es in seinem Leserbrief gekonnt zusammen, weshalb ihr das gelingt: «Basis dafür stellt der kontinuierliche Aufbau von starken Beziehungen dar, …»
Basis eines erfolgreichen Unterrichts
Leider schrauben die vielen Reformen von gestern und heute gerade an dieser Basis herum. So wundert es die Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret nicht, weshalb heute mehr Kinder als früher Lernschwächen haben. Viele Kinder seien mit dem selbstorganisierten Lernen (SOL) überfordert: «Kinder brauchen zum Lernen Anleitung von Erwachsenen, zu denen sie in Beziehung stehen.»
Fehler im System
Überforderung von Schulkindern und Lehrpersonen, Heterogenität und Unruhe im Klassenzimmer, Verzettelung bei den Bildungszielen und akuter Lehrermangel gehören zu den bestens bekannten Problemen, mit denen sich die Schule seit Jahren herumschlägt. Doch die Bildungspolitik sucht ständig nach den Fehlern um das System herum, anstatt sich endlich einmal zu getrauen, nach dem Fehler im System selbst zu suchen. Auf diese Ursache deutet Stefan Wittwer, Co-Geschäftsführer von Bildung Bern. Eliane Perret doppelt nach, dass Kinder heutzutage rascher eine psychiatrische Diagnose erhalten. Den Grund sieht sie u.a. darin, dass das familiäre und schulische Umfeld, der Erziehungsstil und andere Bedingungen, die Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben, bei einer Diagnose zu wenig gewichtet würden. Wir sind also wieder bei der Basis (der Beziehung) angelangt.
Kein Zurück in die Vergangenheit?
Ein Grossteil der Bevölkerung wird sich der wahren Ursachen der Schulprobleme mehr und mehr bewusst, Bildungspolitiker stehen anscheinend etwas länger auf dem Schlauch. Viele Eltern wollen, dass Kleinklassen wieder eingeführt werden. Bildungsforscher Andrea Lanfranchi quittiert dieses Begehren aber als «Zurück in die Vergangenheit». Sein Rezept sind nach wie vor die modern klingenden Lernumgebungen und das SOL. Dass sie sich in der Praxis nicht bewähren, zeigt der schulische Alltag zu Genüge. In seinem Gastbeitrag sieht Erziehungswissenschaftler Beat Kissling solche Unterrichtsformen lediglich «zu einer Schüler-Ego-Optimierungsangelegenheit» verkommen. Die bewusste Ignoranz des Offensichtlichen führt unweigerlich zu Absurditäten, wie sie Peter Schmid im darauffolgenden Leserbrief aufführt: «Wenn man hochbegabte Schüler separiert, dann ist das gut, wenn man schwachbegabte Schüler separiert, dann ist das schlecht.»
Autorenschaft, der Kern der Medienerziehung
In seinem Gastkommentar geht Klaus Zierer (Ordinarius für Schulpädagogik) mit den KI-Chatbots und der digitalen Technik im Allgemeinen hart ins Gericht und dies ganz zu Recht. Lassen wir uns seine Essenz auf der Zunge zergehen: «Technik ist einer der grössten Treiber für mehr Bildungsungerechtigkeit. Weil Menschen mit schlechter Bildung sie weitaus unsinniger einsetzen als Menschen mit guter Bildung.» Die Ironie der Sache führt uns sogar dahin, dass wir die Technik mehr und mehr dafür benötigen, um Probleme zu lösen, die wir infolge der Technik haben. Genau deshalb fordert Zierer eine Medienerziehung, die Menschen in ihrer Autorenschaft wieder stärkt. Die Menschen sollen die Technik nicht nur bedienen können, sondern die Technik soll ihnen schlussendlich auch dienen. Daher werde es nötig sein, «noch mehr als bisher die Bildung der Menschen zu stärken.» Abseits von Technik, wohlverstanden.
Hausaufgaben für mehr
Zu guter Letzt führt uns Alain Pichard im Nebelspalter-Artikel den eigentlichen Sinn von Hausaufgaben wieder vor Augen. Nach einer sauberen Auslegeordnung darüber, was Hausaufgaben eigentlich sind, hält er fest: «Gerade die Hausaufgaben erlauben es den weniger talentierten Schülern, die Grundkompetenzen in einem Fach zu erfüllen und die Ziele mit Fleiss zu erreichen.» Was die Hausaufgaben zu einem Stress werden lässt, seien nicht diese selbst, sondern eine Überfrachtung der Lehrpläne und die vielen überfachlichen Kompetenzen. Die Konsequenz davon sei, dass bei Hausaufgaben zwar «Vieles gemacht und abgehakt, aber kaum mehr gründlich durchgenommen wird.» Seine Lösung: Zurück zum ursprünglichen Zweck von Hausausgaben. Denn «gerade mit diesen Hausaufgaben wird auch die Autonomie und Mündigkeit der Lernenden unterstützt.»
Die Gebote der Stunde
Wir sehen also: Das erste Gebot der Stunde lautet «Back to the Future!» Für die Wiedereinführung von Kleinklassen braucht es eine Rückbesinnung auf altbewährte Praxis. Nur so gelangt unsere Schule in die Zukunft (sorry, Herr Lanfranchi!) und dreht sich nicht im Kreis. Das zweite Gebot ist dem ersten ähnlich: «Back to the Roots!» Bevor überstürzt noch mehr Säulen aus dem Lerngebäude entfernt werden, muss der ursprüngliche Zweck dieser Säulen wiederentdeckt werden. Seien es beispielsweise die Hausaufgaben: Wirksam eingesetzt bilden sie, laut Pichard, eine wertvolle Ergänzung zum Unterricht und erfüllen erst noch die Prämisse der Individualisierung.
Lassen Sie sich inspirieren! Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.
Timotheus Bruderer