Setzt euch endlich mit den schulischen Kernproblemen auseinander!
Carl Bossard erläutert in seinem Leitartikel, dass es die Bildungsdirektionen meisterhaft verstehen, die Kernproblematik beim Lehrermangel auszublenden. Das überladene System des neuen Lehrplans mit seinem Blendwerk an Kompetenzen und die auf die Spitze getriebene Heterogenität in den Regelklassen werden trotz heftiger Proteste aus der Schulpraxis nicht ernsthaft hinterfragt. Eisern wird am Dogma der Totalintegration mit der Ablehnung von Kleinklassen festgehalten und gleichzeitig bedauert, dass die Klassenlehrpersonen stark belastet seien. Bei den Bildungszielen verzettelt man sich, indem neben neuen Fächern wie Medienkunde und Informatik drei Sprachen in der Primarschule vermittelt werden. Und am Schluss wundert man sich, dass bei diesem hektischen Programm die Schulleistungen vieler Schüler in zentralen Fächern ungenügend sind.
Der Autor fordert eine gründliche Auseinandersetzung, welche Bildungsziele Vorrang haben. Wer alles will, erreicht wenig. Wer neue Fächer in den Lehrplan aufnimmt und nirgendwo den Stoff reduziert, muss notgedrungen Abstriche beim Üben und Vertiefen wesentlicher Inhalte in Kauf nehmen. Der Mut zum Kürzen von populären Wunschprogrammen fehlt in den Bildungsstäben weitgehend, da sich die Bildungspolitik mit ihren oft vollmundigen Versprechungen weit aus dem Fenster gelehnt hat.
Der Lehrerberuf erfordert selbständiges und auftragsorientiertes Handeln
Widersprüchlichkeit ist ein Wesensmerkmal der pädagogischen Arbeit. Lehrpersonen sind täglich mit dem dialektischen Prinzip konfrontiert. Fruchtbare Lernprozesse erfordern sowohl Nähe durch positive Zuwendung wie Distanz in Form eines pädagogischen Widerstands beim Überwinden von Lernhindernissen. Carl Bossard spricht von achtsam sein und gleichzeitig Disziplin verlangen. Man müsse das Kollektiv im Auge behalten und jeden Einzelnen im Blick haben. Diese Anforderungen verlangen von den Lehrerinnen und Lehrern viel Flexibilität und die Kraft, selbst unzählige Entscheidungen zu treffen. Bildungsprogramme sind dabei nur Leitplanken, das Steuern der Lernprozesse ist Sache der Lehrkräfte.
Es versteht sich von selbst, dass der Lehrerberuf nur erfolgreich ausgeübt werden kann, wenn ein Höchstmass an Freiheit bei gleichzeitiger Verankerung in der Verantwortung gegenüber dem Bildungsauftrag besteht. Die Vorstellung, mit einer zentralen Steuerung des Bildungs-Outputs durch einen feinmaschigen Kompetenzenraster könne man die Effizienz steigern, wird durch die Schulpraxis klar widerlegt. Vielmehr verhindert dieses Festhalten an einer überholten Steuerungsidee die Schule am Fortschritt. Der damit verbundene Abbau an pädagogischer Freiheit in den letzten Jahren hat dem Lehrerberuf schwer geschadet.
Ein selbstkritischer Bildungsdirektor sieht Reformbedarf in der Lehrerbildung
Der Zuger Bildungsdirektor Stephan Schleiss sieht in seinem Interview im Nebelspalter wenig Chancen, die teilweise gescheiterten Reformen wieder rückgängig machen zu können. Das Bildungsschiff sei nur schwer manövrierbar und Kurskorrekturen seien nur mit gigantischem Aufwand möglich. Dennoch überrascht der selbstkritische Bildungsdirektor mit einigen unverblümten Aussagen. So sieht er die Umwandlung der früheren Lehrerseminare in Pädagogische Hochschulen als Fehler an. Man könne das Rad der Zeit zwar nicht mehr zurückdrehen, doch eine Reform der Ausbildung im Sinne von grösserer Nähe zum Unterrichtsgeschehen würde den Berufseinsteigern sehr viel helfen. Der Bildungsdirektor versteht nicht, weshalb in der Primarlehrerausbildung heute ein starker Akzent auf wissenschaftliches Arbeiten gesetzt wird. Dieses Konzept verschlingt sehr viel Zeit, ohne dass es einen unmittelbaren Nutzen für die eigentliche pädagogische Arbeit hat.
Auch ohne wissenschaftliches Beiwerk bleibt die Lehrerbildung höchst anspruchsvoll
Ich teile diese Auffassung weitgehend. Berufseinsteiger beklagen sich zu Recht, dass sie im Dschungel der Anforderungen des täglichen Unterrichts in manchen Fächern nicht über das nötige Basiswissen und über praxistaugliche didaktische Instrumente verfügen. Die meisten wären froh um ein Startkapital in Form von ausgearbeiteten Lektionsreihen mit guten Hintergrundinformationen. Es geht hier nicht um ein billiges Übernehmen vorgefertigter Unterrichtsreihen. Vielmehr ist es Aufgabe der Fachdidaktiker, die Lehrerbildung stärker auf die Anforderungen eines überzeugenden Unterrichts auszurichten. Diese herausfordernde Aufgabe darf nicht unterschätzt werden. So braucht es beispielsweise ein aufbauendes Training in der Erzählkunst und sorgfältige Einführungen in historische Epochen, um den Geschichtsunterricht spannend gestalten zu können.
Die meisten Pädagogischen Hochschulen bewegen sich untereinander in einer Blase des akademischen Wettbewerbs. Sie stehen unter Zwang, unzählige pädagogische Publikationen produzieren und präsentieren zu müssen. Dieser oft praxisferne Wissenschaftsbetrieb färbt stark auf das Denken der Studierenden ab. Eine Ausbildungsreform zugunsten von mehr Praxisnähe muss diese starke Abhängigkeit durchbrechen. Ich meine, dass der Schlüssel vor allem bei den Fachdidaktiken liegt. Diese sollen auf der einen Seite eine – in Teilen auch wissenschaftliche – Grundbildung der Studierenden sicherstellen. Es gilt ein Fachwissen zu erwerben, dass für den täglichen Unterricht nutzbringend ist. Auf der anderen Seite braucht es die Auseinandersetzung mit den Weltbildern der Kinder und Jugendlichen. Es gilt, den Stoff so zu gestalten, dass er bei den Schülern ankommt. Für dieses Ausbildungsmodell sehe ich ein Doppelgespann mit einem Dozenten und einem Didaktiker aus der Volksschule. Letztere sind heute schwer zu finden, doch es wäre ein prüfenswertes Karrieremodell, wenn engagierte Praxislehrkräfte einen direkten Zugang zu den Pädagogischen Hochschulen finden könnten. Lehrkräfte mit grossem pädagogischem Talent würden in unserem Bildungssystem so einen stärkeren Einfluss auf didaktische Entwicklungen erhalten.
Kulturelle Banalisierung der Bildung und der ewige Streit um den Gymizutritt
Beat Kissling rechnet in einem ausführlichen Leserbrief in der NZZ mit der Banalisierung der Bildungsinhalte durch das Kompetenzenmodell des neuen Lehrplans ab. Er kritisiert, dass mit der inhaltlichen Entleerung der Lernprozesse viel Bildungskultur verloren gegangen ist. Der Autor sieht zudem in der als fortschrittlich erklärten Moderatorenrolle der Lehrpersonen eine Abwertung des Lehrerberufs. Dieses Berufsbild sei nicht geeignet, den jungen Lehrerinnen und Lehrern das nötige Selbstvertrauen für einen erfolgreichen Schulstart zu vermitteln. Ohne entscheidende Korrekturen am Ausbildungskonzept drohe seiner Meinung nach in den nächsten Jahren ein personelles Fiasko an unserer Volksschule.
Mit schöner Regelmässigkeit steht jedes Frühjahr die Frage des Zutritts zu den Gymnasien in den Zeitungen im Fokus. Der Druck, den Sohn oder die Tochter nach der sechsten Klasse ins Gymnasium zu schicken, hat in gewissen Gegenden stark zugenommen. Wenn nun aber die Zürcher Bildungsdirektion glaubt, dem gesellschaftlichen Druck mit einer Anhebung des Notendurchschnitts ausweichen zu können, ist grosser Ärger vorprogrammiert. Mit Hans-Peter Köhli hat ein scharfzüngiger Leserbriefschreiber der Bildungsdirektion für das mutlose Lavieren richtiggehend die Leviten verlesen.
Das Schlussbouquet bilden der bedenkenswerte Vorschlag eines Leserbriefschreibers, die unsinnige Vorverlegung des Schuleintrittsalters wieder rückgängig zu machen, sowie ein Beitrag über das Tauziehen um die neue Maturitätsreform. Beide Texte zeigen, wie umstritten einige der einschneidenden Neuerungen sind und dass es überall heftig brodelt. Lassen Sie sich in die spannenden Diskussionen hineinziehen und geniessen Sie die Lektüre.
Hanspeter Amstutz