Was für eine Bildung im Gymnasium und in der Volksschule?
Aus einer der menschlichen Natur entsprechenden pädagogischen Sicht ist die Antwort nicht schwierig: Am Gymnasium braucht es eine im Kern humanistische, das heisst eine dem Menschen gemässe und menschenwürdige Bildung. Dasselbe gilt für die Bildung in der Volksschule. An den Anfang unserer Textsammlung stellen wir zwei Beiträge, die diesen Grundgedanken wunderschön in Worte fassen: Die Erinnerung an das pädagogische Ziel einer ganzheitlichen Volksbildung von Johann Heinrich Pestalozzi aus der Feder der langjährigen Handarbeitslehrerin Marianne Bürkli und den eindringlichen Mahnruf unseres «Hausautors» Carl Bossard an die Lehrerinnen und Lehrer, unsere Jugend an das Glück des Lesens heranzuführen und ihr die Lesekompetenz zu vermitteln, die auch für die soziale und politische Teilhabe an der Demokratie unverzichtbar ist.
Welche Bildung an unseren Gymnasien?
Von diesem Niveau aus nehmen wir zwei der Argumente in den Medien für einen sogenannt zeitgemässen «Wandel» der gymnasialen Bildung unter die Lupe. Zum Beispiel verkennt der Titel «Historiker bangen um ihr Fach» das pädagogische Anliegen, dem Fach Geschichte – und anderen Grundlagenfächern – ihren gebührenden Platz und ihre anspruchsvollen Inhalte zu erhalten. Wer glaubt, Themen wie «die Globalisierung und die Digitalisierung, aber auch aktuelle Fragen zur partizipativen Gesellschaft oder zur Nachhaltigkeit» verlangten eine Änderung des Fächerkanons, der irrt. Was es braucht, ist auf einer ganz anderen Ebene zu suchen. Gymilehrerinnen mit einer gründlichen und in die Tiefe gehenden Bildung, verbunden mit der Fähigkeit und dem Drang, sich unablässig mit der Geschichte und den Aktualitäten der Welt auseinanderzusetzen, tragen ihre Erkenntnisse und Gedanken in ihre Klassen, wie auch immer ihr Fach bezeichnet wird. Den Lehrkräften vorschreiben zu wollen, welche einzelnen Problemkreise sie mit ihren Schülern wälzen sollen, verstösst gegen die Lehrfreiheit.
Der Kritik von Economiesuisse, die geplante Maturreform berücksichtige die Forderungen der Wirtschaft zu wenig, ist entgegenzusetzen: Die gymnasiale Bildung darf sich nicht darauf beschränken, Zudienerin der Wirtschaft zu sein. Sicher ist es wichtig, das Verständnis und die Freude an Mathematik und Naturwissenschaften zu fördern. Aber es muss in allen Fächern das Ziel des Unterrichts sein, dass die Schüler sich einen Grundstock an Wissen und Kenntnissen aneignen und lernen zu lernen und zu denken. Dass dazu auch die «Soft Skills» gehören, sollte wieder selbstverständlich werden. Viele davon, zum Beispiel Bereitschaft zur Kooperation, Verantwortungsbewusstsein und höflicher Umgang, müssen von klein auf in der Familie gelernt werden.
Hausaufgaben – ein Stress für Jugendliche?
Die Medien der letzten Wochen sind voll von Stimmen, die in den Hausaufgaben eine schwere Belastung, ja sogar eine mögliche Ursache für schwere psychische Probleme sehen. Es gibt sogar Zürcher Gymilehrer und Rektoren, welche die Hausaufgaben ganz abschaffen wollen. In einigen Leserbriefen kommt ein meiner Meinung nach zu starkes Mitleid mit den «gestressten» Jugendlichen zum Ausdruck. Von «Lernen ohne Freude» ist die Rede, als ob Hausaufgaben per se eine freudlose Angelegenheit sein müssten.
Nichts Neues sind die Zahlen von Bildungsforscher Stefan Wolters, wonach Lehrlinge mehr Wochenstunden und weniger Ferien haben als Kantischüler. Meine Berufsschüler wussten das schon vor Jahren und sagten jeweils stolz: «Wir sind halt nicht so «weich» wie die in der Kanti, wir stehen früher auf und wissen am Abend, was wir geleistet haben. Dafür kriegen wir auch einen Lohn.» Und ihre Schulaufgaben mussten sie am Abend nach der Arbeit lösen.
Einige Autoren und Leserbriefschreiber sorgen sich darum, dass die heutigen Gymi-Schüler vor lauter Ufzgi keine Zeit mehr für Sport und Musik oder ähnliches haben könnten. Ein Leserbriefschreiber bemerkt dazu richtig, jeden Tag stundenlang mit dem Handy beschäftigt zu sein, stelle er sich auch stressig vor. Wenn ich daran denke, wofür ich in der Kanti neben den oft umfangreichen Hausaufgaben noch Zeit hatte: Ich war Pfadiführerin, hatte Klavierstunden, las tonnenweise Bücher, traf mich mit meinen Freundinnen. Im sonnigen Sommer vor der Matura lag ich an den schulfreien Nachmittagen unter einem Baum in der Badi und las meine Pflichtlektüre.
Die Pädagogen, die im lesenswerten Nebelspalter-Artikel vom 19. März zu Wort kommen, bringen es auf den Punkt: Bei den Hausaufgaben anzusetzen, sei der falsche Ansatz. Nirgendwo könne man besser lernen, sein Lernen selbst einzuteilen, als bei den Hausaufgaben, so der Baselbieter Oberstufenlehrer Jürg Wiedemann. Und Gymnasiallehrer Rene Roca sieht die Ursache des Problems in der Volksschule. Weil der Lehrplan 21 einseitig auf die Aneignung von Kompetenzen ausgerichtet sei, hätten viele Schüler grosse Lücken im Stoff und auch nicht gelernt, selbständig zu lernen.
Selbständiges sowie gemeinsames Lernen gehört zu einer dem Menschen gemässen Bildung
Für die Fähigkeit, in der Schule Gelerntes selbständig zu üben und zu vertiefen, sind Hausaufgaben – besonders im Gymnasium – unverzichtbar. Mehrere Fremdsprachen nebeneinander zu lernen, ohne dass sie in der Familie gesprochen werden, ist nun einmal nicht möglich, ohne sich Wörtli und Grammatik einzuprägen. Dass es manchmal zu Belastungsspitzen kommt, ist im Gymi kaum zu vermeiden – übrigens auch später im Leben nicht. Gut, wenn man als Jugendlicher schon lernt, die anstehenden Arbeiten selbständig zu organisieren und einzuteilen. Wer nach der Matura ein Hochschulstudium ins Auge fasst, wird froh sein um sein jahrelanges Hausaufgaben-Training. Den wichtigen Aspekt der Chancengleichheit bringt Mathelehrer Balz Bürgisser im Nebelspalter-Artikel ein: «Hausaufgaben vertiefen doch das erfolgreiche Lernen am Gymnasium. Sie festigen den Stoff und sind ein Zeichen der Chancengleichheit». Wer im Unterricht weniger schnell sei, könne den Stoff zu Hause festigen. «Das darf man nicht einfach aufgeben.»
Was in den Medien kaum thematisiert wird, ist die Möglichkeit, sich zu den Hausaufgaben oder Prüfungsvorbereitungen zusammenzutun. Da erklärt der eine den Lernstoff für den Geografie-Test, die andere die neu eingeführten französischen Grammatikregeln. Wenn man sich die Englisch- oder Franz-Wörtli gegenseitig abfragt, macht es sogar Spass. Auf anspruchsvolle Prüfungen bereiteten wir uns in der Kanti häufig zu dritt oder viert vor. Das gemeinsame Lernen ist auch über die Ufzgi hinaus eine soziale Angelegenheit. Oft ist der Übergang zwischen Lernen und Freizeit fliessend: Man macht auch einmal Pause und widmet sich anderen Themen.
Einige Highlights zum Dauerbrenner integrierte Klassen und Lehrermangel
Der Auftakt zu diesem Teil unserer Textsammlung gebührt Mario Andreotti, der Ross und Reiter der heutigen Misere in der Volksschule beim Namen nennt: Das falsche Lernkonzept des Lehrplan 21, die Heranbildung von Coaches statt einer Lehrerbildung, die diesen Namen verdient, die Überflutung der Lehrkräfte mit «administrativem Krimskrams». Andreotti fordert die Rückkehr zum Frontalunterricht (Klassenunterricht), der «nachgewiesenermassen die besten Lernergebnisse brachte».
Im Artikel «Ohne Bildung gibt es keinen Staat» finden sich einige bemerkenswerte Feststellungen, unter anderem im Titel, oder in der Bemerkung, dass die Institutionskritik der 1968er und die «Reformkaskade» in den 1990er Jahren «die Resilienz der Schulen geschwächt haben». Auch die Vorschläge des Autors zur Steigerung der Attraktivität des Lehrerberufs sind interessant: Alle unnötigen administrativen Aufgaben streichen, die Begleitung der Junglehrer beim Berufseinstieg verbessern. Andererseits ist es kaum nachvollziehbar, dass der Autor sich von (teuren!) Designer-Schulhäusern