Die Jagd nach Kompetenzen marginalisiert die Bildungsinhalte
«John Maynard war unser Steuermann,
aushielt er, bis er das Ufer gewann;
er hat uns gerettet, er trägt die Kron,
er starb für uns, unsere Liebe sein Lohn.»
Vielleicht klingt Ihnen diese Strophe aus Theodor Fontanes Gedicht wie mir noch in den Ohren nach. Meine Sekundarschulzeit liegt einige Jahrzehnte zurück, aber der «John Maynard» ist mit Zeilen wie «Halt aus hallo, noch zehn Minuten bis Buffalo!» noch immer präsent. Die dramatische Lage auf dem brennenden Schiff, ausgedrückt in der Sprache eines journalistisch tätigen Dichters, geht Jugendlichen noch heute tief unter die Haut.
Die Musikalität und Bildhaftigkeit der Sprache Fontanes regt Jugendliche an, das Gedicht mit Freude zu rezitieren. Sie sträuben sich kaum, wenn sie einige Strophen auswendig lernen müssen, da Inhalt und Form des Kunstwerks faszinieren. Haben sie einmal die Zeilen verinnerlicht, gelingt es den meisten, mit modulierender Stimme den dramatischen Ablauf der Rettungsaktion auf dem Eriesee zu gestalten. Die Schülerinnen und Schüler sind berührt vom tragischen Helden, der in einer Grenzsituation über sich hinausgewachsen ist. Das Gedicht weckt Emotionen, weil es grosse Fragen aufgreift.
Wesentliche Bildungsinhalte haben einen prägenden Eigenwert
Für die aktuelle Kompetenzenlehre sind solche Gedichte kaum interessant. Wie soll man denn Emotionen messen und den Output eines verinnerlichten Kunstwerks quantifizieren? Es ist bezeichnend, dass die Schüler über Gedichte und bedeutende Theaterstücke in keiner PISA-Studie befragt werden. Zu Recht kritisiert Allan Guggenbühl in seinem Beitrag die Oberflächlichkeit der vorherrschenden Output-Orientierung des neuen Lehrplans.
Noch einen Schritt weiter geht Felix Schmutz mit seiner Demontage des pädagogischen Kompetenzbegriffs. Der Autor macht eine scharfe Trennung zwischen den auf klar fassbare Inhalte ausgerichteten Bildungszielen und den ungebundenen Kompetenzzielen. Diese Ziele sind erworbene mentale Fähigkeiten und psychische Dispositionen, um Leistungen in gewissen Bereichen zu erbringen. Kompetenzziele sind ganz auf Anwendung ausgerichtet. Die zum Erwerb der Kompetenzen nötigen Inhalte sind zweitrangig und in vielen Fällen austauschbar. Damit stellt der Autor klar, dass die aktuelle Kompetenzenlehre eine Abwertung der Bildungsinhalte vornimmt. Das hat erhebliche Konsequenzen für unser Bildungssystem, indem viele kulturell prägende Inhalte verloren gehen.
Im Interview mit Carl Bossard geht es um einschneidende Veränderungen in unserer Volksschule. Der Autor hebt hervor, dass im Lehrerberuf durch kleinkarierte Steuerung, komplizierte Personalverhältnisse und der Überfülle an Bildungszielen ein grosses Stück an pädagogischer Freiheit verloren gegangen ist. Die Luft zum freien Atmen sei für viele Lehrkräfte zu dünn geworden. Im Vergleich mit früher seien die Pädagogen heute an unzähligen Fronten im Einsatz und hätten weniger Zeit, um zentrale Themen mit ihrer Klasse gründlich zu behandeln und intensiv zu üben. Die Vorstellung, dass in einer sechsten Klasse damals gegen zehn Aufsätze geschrieben und vom Lehrer sorgfältig korrigiert wurden, illustriert die Entwicklung. Anderseits kann positiv vermerkt werden, dass der Unterricht heute fachlich breiter und der Unterrichtstil individueller ist.
Inhaltliches Vertiefen bringt mehr als das Abhaken von Kompetenzzielen
Alle drei Autoren sehen in der Marginalisierung der Bildungsinhalte einen Grundfehler beim Kompetenzenmodell des neuen Lehrplans. Es reicht nicht aus, wenn die Lehrplanverantwortlichen unterdessen betonen, dass man ohne Inhalte keine Kompetenzen erwerben könne. Mit der Output-Orientierung des Lernens verschieben sich die Gewichte eindeutig von den Inhalten zu den nutzbaren Resultaten. Eine Primarschulklasse, die sich intensiv mit dem Thema Saurier auseinandersetzt, hat während Wochen einen Dreh- und Angelpunkt im Realien- und Deutschunterricht. Die Schüler lernen dabei manches, was keinen unmittelbaren Nutzen an messbaren Kompetenzen bringt, aber ihr Denken wird durch die Attraktivität des Themas und aufschlussreiche Fragen angeregt. Der Erwerb gewisser Kompetenzen, sei es in Form eines breiteren Wortschatzes oder im analytischen Denken, kommt dennoch nicht zu kurz. Beim faktenorientierten Lernen sind Kompetenzen ein gewolltes Nebenprodukt von nachhaltiger Wirkung. Dieses Lernen benötigt mehr Zeit, denn es gilt, sich auch emotionalen Fragen zuzuwenden, welche die Schüler geklärt haben möchten. Weshalb sind die Saurier plötzlich ausgestorben und warum sind unsere Vögel mit den Dinos verwandt?
Das aktuelle Kompetenzenmodell vertritt eine Pädagogik der Ungeduld. Man zielt direkt auf die Resultate und hofft, möglichst viele Kompetenzziele ohne langes Verweilen bei einem Thema erreichen zu können. Doch der Weg zu echter Bildung lässt sich nicht abkürzen. Der Schaden ist immens, wenn der Schulstoff primär unter dem Gesichtspunkt der leichten Überprüfbarkeit ausgewählt wird und Inhalte beliebig austauschbar werden. So glaubt man, dass im Fach Geschichte anhand weniger Themen auf speditive Weise politische Kompetenzen erworben werden können. Auf einen Aufbau des Basiswissens über unsere Schweizer Geschichte wird dabei verzichtet, da inhaltliche Fragen nicht von wesentlichem Interesse sind. Dass dabei zentrale kulturelle Werte verloren gehen, nimmt man in Kauf.
Ratlose Bildungsexperten wollen nicht auf Schulpraktiker hören
Unsere Bildungspolitik macht zurzeit keine gute Figur. Im Zürcher Wahlkampf blieb es in bildungspolitischen Diskussionen in der Regel bei Auseinandersetzungen mit Schlagwörtern und auch nach den Wahlen scheint sich vieles im Kreis zu drehen. Dies gilt ganz besonders für den Bereich der schulischen Integration. Zwar ist viel darüber in der Presse zu lesen, doch die sogenannten Experten scheinen die Realitäten in den Regelklassen einfach nicht richtig zur Kenntnis zu nehmen. Diese Optik aus dem Elfenbeinturm, zusammen mit einem ungenügenden Sinn für das politisch Machbare, führt zu hilflos wirkenden Rezepten zur Rettung des Integrationsmodells. Es sind die ewiggleichen Vorschläge, welche politisch zurzeit absolut chancenlos sind. Man fordert kleinere Klassen und noch mehr Heilpädagoginnen zur Unterstützung der Klassenlehrpersonen. Es ist einfach unglaublich, dass Experten und Politiker teure Massnahmen vorschlagen im Wissen, dass diese weder personell nach finanziell realisierbar sind.
Wir haben in der Redaktion beschlossen, Ihnen einen Text einer solchen Expertin vorzulegen. Es ist das Interview aus dem Tages-Anzeiger mit der obersten Schulpsychologin des Kantons Zürich. Wir überlassen die Antwort auf die umstrittenen Aussagen der Expertin den Leserbriefschreibern. Diese sprechen Klartext und rücken die Schulrealität wieder ins richtige Licht.
Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre unseres Newsletters neue Erkenntnisse. Und ich würde mich freuen, Sie an meinem Vortrag zum Thema Schweizer Geschichte begrüssen zu können.
Den Hinweis zur Veranstaltung finden Sie am Schluss unseres Newsletters.
Hanspeter Amstutz