Eine gute Volksschule tut not!
Alle Jahre wieder lesen wir in den Zürcher Medien von der grossen Aufregung vor den Gymi-Aufnahmeprüfungen. Eltern beschweren sich, weil letztes Jahr an der Prüfung andere Aufgaben gestellt wurden als in der Schule oder weil ihr Kind trotz besten Schulleistungen nicht bestanden hat. Und es geht auch um die Chancengleichheit.
Wir ersparen uns und unserer Leserschaft die Wiedergabe aller neuen Artikel zum Thema Gymi-Prüfungen und wenden uns dem Wesentlichen zu.
Dauerbrenner Chancengleichheit
Die Forderung nach Chancengleichheit war und ist mit Recht ein Dauerbrenner: Schon in meiner Generation stand sie an. Meine Mitschüler aus italienischen Gastarbeiterfamilien fassten die Gymiprüfung gar nicht ins Auge, während ich als Arztkind schon in der 3. Klasse wusste, dass ich später in die Kanti will. Trotzdem war die Chancengleichheit damals grösser als heute. Weil in neun Jahren Volksschule praktisch alle Kinder den nötigen Grundstock an Kenntnissen mitbekamen, wurden meine Gspänli, die nach der 6. Klasse die Oberschule besucht hatten und in der Lehre sowie im Berufsleben gute Leistungen erbrachten, später Direktionssekretärin oder Geschäftsführer. Die Basiskompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen wurden in der Primarklasse geschult, bestätigt auch Carl Bossard, und er malt die damalige Lehr- und Lernmethode anschaulich aus: «Was wir <durchnahmen>, nahmen wir gründlich durch, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Ein Ding richtig können ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen.» Zudem haben viele von uns, im Gegensatz zu manchen heutigen Kindern, die in ihrer Freizeit in erster Linie mit dem Handy beschäftigt sind, von klein auf Berge von Büchern verschlungen, was für den Spracherwerb ein grosser Vorteil war.
Fehlen der Grundkenntnisse am Ende der Volksschule: Ein Systemversagen
Heute dagegen sitzen unsere Kinder in heterogenen Inklusionsklassen und sollen selbstorganisiert und oft alleingelassen die Lernziele eines untauglichen Lehrplans erreichen. Diktate zu üben oder das Einmaleins auswendig zu lernen gilt nicht mehr als zeitgemäss. Dass viele 15-Jährige die Schule ohne die notwendigen sprachlichen Grundkenntnisse verlassen, nennt Stefan C. Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung SKBF, ein «Systemversagen». Die SKBF ist aber nicht irgendein privater Club, sondern stellt sich selbst vor als «gemeinsame Institution der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK)». Diese Leute haben uns die ganze Umpflügung des Bildungswesens eingebrockt. Bildungsökonom(!) Stefan C. Wolters gehört also zu den Mitverantwortlichen für das Systemversagen. Wir brauchen keine Ökonomen, die die Bildung in eine falsche Richtung managen, sondern Pädagogen, für die das Wohl der Jugend an erster Stelle steht.
Recht auf Bildung und Freiheit des Lehrens
Hier, beim amtlich festgestellten Systemversagen, sollten wir Eltern und Bürger ansetzen. Das bringt mehr, als mit der Lehrerin über Zehntelnoten zu streiten, wie Allan Guggenbühl aus seiner Beratungstätigkeit berichtet.
Vielmehr ist ein erneuter Systemwechsel erforderlich: Hin zu einer Volksschule, in der unsere Jugend die Chance hat zu lernen und im Leben voranzukommen. Ob sie in der Regelklasse oder in einer Kleinklasse sitzen, ob sie eine Berufslehre oder das Gymnasium absolvieren, jedes von ihnen hat das Recht auf eine Bildung, die ihm eine erfüllte Zukunft auftut. Die nötigen Voraussetzungen dafür sind kein Zauber, sondern leuchten jedem vernünftigen Zeitgenossen ein. Es braucht im Schulzimmer einen Klassenlehrer, der für die Kinder «zur klaren Bezugsperson» wird, der «die Regeln für einen gemeinsamen, guten Schulunterricht» bekanntgibt und den Beitrag jedes Kindes einfordert, so Allan Guggenbühl. Elternumfragen und die vielen Leserbriefe, die in die Redaktionen strömen, belegen das Scheitern der Integration: Die grosse Mehrheit der Kinder benötigt einen ihrer Situation besser angepassten Rahmen, um konzentriert und mit Freude lernen zu können.
Zudem muss die Unterrichtssituation für die Lehrerinnen und Lehrer zumutbar sein. Also keine heterogenen Integrationsklassen, in denen ein für alle Beteiligten befriedigender Unterricht nicht möglich ist, und keine Überlastung der Lehrer mit administrativen Aufgaben. Vielmehr benötigen die Lehrer, so Carl Bossards wichtiger Hinweis, genügend Freiraum, um ihrer Verantwortung für die Kinder und deren Lernfortschritte nachkommen zu können. Nur in Freiheit können sie «eine tragende Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern aufbauen» und daran glauben, «dass sie für ihre Kinder wirksam sind».
Den Schulleitungen wiederum ist zu empfehlen, sich für eine Verbesserung der Lage für Schüler und Lehrerschaft stark zu machen (einige von ihnen tun dies bereits), statt die Direktiven von oben (Bildungsdirektion) durchzuziehen. Dies würde vermutlich auch zur Beruhigung vieler Eltern beitragen.
Einige ausgezeichnete Leserbriefe zu diesen Problemkreisen finden Sie im vorliegenden Newsletter.
Teure Gymivorbereitung? Volksschule hat ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen
«Die Volksschule vermittelt grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten; sie führt zum Erkennen von Zusammenhängen. Sie fördert die Achtung vor Mitmenschen und Umwelt und strebt die ganzheitliche Entwicklung der Kinder zu selbstständigen und gemeinschaftsfähigen Menschen an. Die Schule ist bestrebt, die Freude am Lernen und an der Leistung zu wecken und zu erhalten. Sie fördert insbesondere Verantwortungswillen, Leistungsbereitschaft, Urteils- und Kritikvermögen sowie Dialogfähigkeit. Der Unterricht berücksichtigt die individuellen Begabungen und Neigungen der Kinder und schafft die Grundlage zu lebenslangem Lernen.» (Zürcher Volksschulgesetz, § 2 Absatz 4).
Weil die Volksschule diesem Auftrag nur beschränkt nachkommt, schicken wohlhabende Eltern (oder Eltern, die ihr Geld dafür zusammenkratzen) ihre Kinder in Privatschulen oder in Vorbereitungskurse, damit sie die Prüfung ins Gymnasium schaffen sollen. Nachhilfelehrerin Evelyn Jossi bringt es auf den Punkt: Hausaufgaben und Auswendiglernen seien vielerorts verpönt, in der Gymivorbereitung müsse sie das Einmaleins durchnehmen, weil intelligente Fünftklässler es nicht sauber können. «Chancengleichheit ist ein Märchen», sagt Evelyn Jossi – die einen Eltern könnten teure Kurse bezahlen oder ihren Kindern selbst beim Lernen helfen, andere könnten es nicht.
Einspruch! Chancengleichheit – jedenfalls ein gehöriges Stück davon – sollte kein Märchen sein. Damit alle Kinder eine Zukunftsperspektive haben, wurde die Volksschule eingeführt. Sie hat dafür zu sorgen, dass die Jugend in zwei Jahren Kindergarten und neun Schuljahren im Klassenunterricht die soliden Grundlagen mitbekommt, die es braucht, um eine Berufslehre oder eine weiterführende Schule absolvieren zu können.
Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen und melden uns nach den Sportferien wieder. Der nächste Newsletter erscheint am 11. März.
Für die Redaktion: Marianne Wüthrich