Neue Offenheit in Bildungsdiskussionen deckt Schwächen der Schulreformen auf
Während Jahren war es die Öffentlichkeit gewöhnt, dass eine Reform nach der andern mit dem Gütesiegel pädagogischer Wissenschaftlichkeit durchgewinkt wurde. Der neue Lehrplan sorgte für die schweizweite Harmonisierung der Bildungsziele und galt als Meilenstein einer fortschrittlichen Bildungspolitik. Geprägt von der Welle der Globalisierung stiess auch die Idee der frühen sprachlichen Förderung aller Kinder auf breite Zustimmung. Didaktiker versprachen den Eltern, Primarschulkinder würden mit den Methoden des Sprachbads und des spielerischen Lernens viel leichter den Zugang zu anderen Sprachen finden. Auf diese Weise wachse eine kommunikative Generation heran, die bestens Französisch parlieren und sich mit ihren Englischkenntnissen weltweit zurechtfinden werde. Alles tönte überzeugend, und nur wenige wagten es Einwände zu machen.
Im sozialen Bereich stand die Idee der Chancengleichheit im Zentrum aller Schuldiskussionen. Kein Kind werde künftig ausgegrenzt und in einer Kleinklasse von den übrigen Mitschülern getrennt. Kinder mit Teilleistungsschwächen oder einer leichteren geistigen Behinderung, aber auch Verhaltensauffällige sollten in Regelklassen gemeinsam unterrichtet werden. Zur Unterstützung der Lehrpersonen versprach man, Heilpädagoginnen im täglichen Unterricht einzusetzen und weiteres Fachpersonal zur Verfügung zu stellen. Für die in Misskredit geratenen Kleinklassen wurde der Geldhahn zugedreht, während unzählige Fördermittel in die spezielle Betreuung integrierter Schüler flossen.
Ein sehr gewagtes Experiment mit individualisierten Lernzielen
Weit schwieriger zu verstehen war das komplizierte Konzept des individuellen Lernens, wie es mit dem neuen Lehrplan verankert wurde. Nach den Vorstellungen der Lehrplanverantwortlichen sollte jedes Kind aus Gründen der Chancengleichheit in allen Fächern umfassend gefördert werden. Diese Herkulesaufgabe glaubte man durch individualisiertes Lernen in unterschiedlichen Lerntempi und einem klar vorgezeichneten Weg über messbare Kompetenzziele am besten bewältigen zu können. Konkret hiess das, dass einzelne Schüler einer vierten Klasse bereits am Fünftklass-Mathestoff arbeiteten, während andere erst auf der Stufe eines Drittklässlers angelangt waren. Entsprechend sollten die Lehrpersonen als Coaches die Lernprozesse begleiten und intelligente Lernsoftware würde anstelle des gemeinsamen Unterrichts treten. Heikle Fragen wie beispielsweise die komplizierte Notengebung wurden ausgeklammert und an Bildungskommissionen zur Ausarbeitung einer praktikablen Lösung delegiert.
Ungenügende Lesefähigkeit ist keine gute Basis für kritisches Denken
Nach zwanzig Jahren der Reformhektik ist die Aufbruchstimmung unterdessen einer Ernüchterung gewichen. Der grosse Sprung nach vorn ist offensichtlich ausgeblieben. Immer mehr Eltern reiben sich die Augen und fragen sich, warum ihr Kind nicht so wie versprochen gefördert werden kann. Es erstaunt deshalb nicht, dass Stellungnahmen beherzter Schulfachleute zu brennenden Schulfragen zurzeit viel Aufmerksamkeit geniessen. Zu diesen Fachleuten mit hoher Akzeptanz zählt Carl Bossard, dessen fundierte Kritik an der jüngeren Schulentwicklung weite Kreise erreicht. Seine grösste Sorge gilt der Lesefähigkeit, wo unsere Schulabgänger bei den letzten Überprüfungen auf einem bedenklichen Niveau abgeschnitten haben. Ein Fünftel der Neuntklässler ist nicht imstande, einfachste Texte zu verstehen und ein Grossteil aller Jugendlichen tut sich schwer mit dem konzentrierten Lesen längerer Beiträge. Entsprechend ungenügend entwickelt ist eine kritische Distanz zum Gelesenen und die Fähigkeit, aus verschiedenen Ansichten eine eigene Meinung zu bilden.
Für eine Demokratie wie die Schweiz, wo das Volk die Politik mitgestaltet, ist fehlende Urteilskraft ganzer Bevölkerungsgruppen ein Grund zu Besorgnis. Politiker sind unterdessen alarmiert, aber sie sind kaum bereit, den Hebel am richtigen Ort anzusetzen. Kritisches Denken erwirbt man nicht in erster Linie durch zusätzlichen Staatskunde- und Medienunterricht, wie dies im politischen Mainstream gefordert wird. Vielmehr braucht es eine vertiefte Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Texten, eine gute Schulung des Ohrs beim Zuhören spannender Geschichten und intensives Training des sprachlichen Ausdrucks durch das Verfassen eigener Texte. Diese Arbeit kann jedoch nur durch das Abwerfen von stofflichem Ballast und durch eine Konzentration aufs Wesentliche bewältigt werden.
Starke Nebenwirkungen mancher Reformen wurden unterschätzt
Carl Bossard stellt in seinem Interview in der NZZ die als wissenschaftlich deklarierten Reformen auf den Prüfstand und macht den Bildungsexperten den berechtigten Vorwurf, sich zu wenig um die Kernprozesse des Lernens gekümmert zu haben. Er bezeichnet es als verhängnisvoll, dass bei der Einführung neuer Konzepte deren Nebenwirkungen meist vernachlässigt wurden. Man kann nicht eine Fülle von Bildungszielen als verbindlich für alle Schüler erklären und gleichzeitig annehmen, solide Grundkenntnisse könnten in einem beschleunigten Verfahren vermittelt werden. So ist die Dreisprachigkeit der Primarschule ein Tanz auf drei Hochzeiten, welcher nicht nur für schwächere Schüler eine grosse Belastung bedeutet. Es fehlt die Zeit für das wichtige Üben in allen drei Sprachen, bringt viel Hektik in den Schulbetrieb und verstärkt die Heterogenität in den Klassen. In aufrüttelnden Beiträgen wird diese Ansicht durch eine Baselbieter Landrätin und drei Leserbriefschreiber bestätigt, welche die Abschaffung des Frühfranzösisch fordern.
Bei Carl Bossard ist seine Leidenschaft für eine gründliche Bildung in jeder seiner Antworten zu spüren. Seine Botschaft kommt an, weil er mit seiner wissenschaftlichen Redlichkeit eine neue Offenheit in die Schuldiskussion bringt. Er verweigert sich Reformen nicht, wenn sie einen pädagogischen Mehrwert bringen, aber er lehnt starre pädagogische Dogmen ab.
Wir erwarten konkrete Antworten der Politik auf die drängendsten Fragen
Die Zeit ist günstig, um Bilanz bei den Schulreformen zu ziehen. Im Kanton Zürich ist das Amt der Bildungsdirektorin stark umkämpft von Persönlichkeiten aus verschiedenen politischen Lagern. Wer sich profilieren will, muss benennen, was schiefgelaufen ist und was man besser machen kann. Bei politischen Bewerbungen besteht jedoch immer die Gefahr, dass anstelle von klaren Positionen Allgemeinplätze formuliert werden. In der Bildungsdirektion braucht es eine mutige Persönlichkeit, die den Schuldampfer auf einen neuen Kurs bringen kann und die Augen vor der Schulrealität nicht länger verschliesst.
Ein hoffnungsvolles Zeichen, dass Bewegung in die von Dogmen erstarrte Bildungspolitik kommt, hat der Berner Grosse Rat gesetzt. Mit einer Motion hat er die Regierung beauftragt, die Wiedereinführung von Kleinklassen vorzubereiten. Ein solcher Schritt ist auch im Kanton Zürich längst überfällig und sollte jetzt im Wahlkampf von pragmatisch denkenden Politkern energisch gefordert werden. Aber auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, können mit einem Leserbrief direkt in die Bildungsdiskussionen eingreifen.
Ein grossartiger Vortragsabend mit einem engagierten Publikum
Es liegt an uns, Bildungsthemen aufzugreifen und die Politik mit den aktuellen Fragen des Schulalltags zu konfrontieren. Dazu gehören Veranstaltungen wie unser gelungener Vortragsabend mit Carl Bossard und Yasmine Bourgeois. Die Vorträge der beiden, die sich hervorragend ergänzten, elektrisierten das zahlreich erschienene Publikum. In der lebhaften Fragerunde ging es in den Voten der Zuhörer vor allem um die Lehrerbildung, deren Praxisferne teils heftig kritisiert wurde. Daniel Wahl vom Nebelspalter hat in seinem zusammenfassenden Bericht das angesprochene Thema in den Vordergrund gerückt und eine Reihe konkreter Forderungen aufgenommen.
Soweit unser Überblick zum bildungspolitischen Geschehen der letzten beiden Wochen.
Wir wünschen Ihnen eine schöne Adventszeit und melden uns nach einer kurzen Pause im neuen Jahr wieder.
Redaktion Starke Volksschule Zürich
Hanspeter Amstutz