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Newsletter vom 20. 11. 2022

Gedanken zur Lehrerbildung

Meine eigene Lehrerbildung war ziemlich ungewöhnlich. Neben und nach meinem Jus-Studium an der Uni Zürich leistete ich zunächst Kindern und Jugendlichen – vom Primarschüler bis zur Maturandin und zum KV-Lehrling – sogenannte «Lernhilfe» unter Anleitung erfahrener Pädagogen. Dabei lernte ich mit zunehmender Faszination, dass jeder junge Mensch grosses Entwicklungspotenzial hat, wenn es uns beiden gelingt, ein Bündnis miteinander einzugehen: Ich traue dir zu, dass du über deine Hürden hinwegkommen kannst und helfe dir dabei – du lässt dich auf eine Vertrauensbeziehung ein und begibst dich auf den oft beschwerlichen, aber zugleich spannenden Weg des Lernens. Und ich machte das prägende Erlebnis, dass auch fremdsprachige Kinder und solche aus Familien mit wenig Bildungshintergrund gute Schüler werden und einen Lehrabschluss oder die Matura bewältigen können – wenn sie dazu bereit sind und auf Erwachsene stossen, die den Weg mit ihnen gehen.

Mit diesem Erfahrungsschatz im Kopf und im Herzen beschloss ich Lehrerin zu werden, um bei vielen jungen Menschen das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und die Freude am Lernen zu wecken oder zu unterstützen. Mit meinem Rechtsstudium stand mir der Bereich Allgemeinbildung in der Berufsschule offen, wo ich neben dem Unterricht berufsbegleitend die Lehrerausbildung absolvieren konnte. Diese dauerte nur wenige Jahre. Aber das Hineinwachsen in den Beruf und in die Welt der Berufsbildung, die Hilfestellung von erfahrenen Kolleginnen, die fachliche und pädagogische Weiterbildung (allein schon Hunderte von Lektionen im IT-Bereich!) dauerten einiges länger. Und der intensive Austausch mit Kollegen, auch vom Bereich Berufskunde und von anderen Schulen, sowie mit Ausbildnern im Betrieb hörte nie auf und trug – zusätzlich zur anspruchsvollen und spannenden Lernbeziehung mit meinen Schülern – zu einem erfüllten Berufsleben bei.

Anforderungen an eine gute Lehrerbildung

Dies alles läuft vor meinem inneren Auge ab, wenn ich die Diskussionen in Politik und Medien um die Lehrerbildung mitverfolge, wo es oft um Formales (Ausbildungsdauer, Lohn usw.) und selten um die wirklich wichtigen Fragen des Lehrerberufes geht.

Aus der nationalrätlichen Bildungskommission stammt eine Motion, mit der die prüfungsfreie Zulassung von Berufsmaturanden an die PH eingeführt werden soll. Der junge Nationalrat Simon Stadler begründet den Vorstoss damit, das zusätzliche Jahr für den Vorkurs und die Aufnahmeprüfung sei eine «unnötige Hürde» («Nicht ausgebildete Lehrkräfte einzustellen, ist Pflästerlipolitik»). Er selbst, so ist seinem Lebenslauf zu entnehmen, hat eine Maurerlehre gemacht, einige Jahre im Beruf gearbeitet und dann die Berufsmatura und die Ausbildung zum Primarlehrer absolviert. Stadler vertritt den Kanton Uri im Nationalrat. Ein tolles Beispiel für die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems und (wenn wir Wähler es wollen) unseres Milizsystems in der Politik! Hand aufs Herz, Simon Stadler: War ein Jahr mehr Bildung für Ihren Beruf als Lehrer und für Ihr Mandat in Bern vertane Zeit?

Demgegenüber geht es Jürg Wiedemann von der «Starken Schule beider Basel» mit Recht nicht um die Dauer, sondern um den Inhalt der Lehrerbildung («Kritik an den Fachhochschulen»). Der erfahrene Lehrer bemängelt, dass die PH-Studentinnen und -Studenten mit Reflexionen und Projekten beschäftigt werden, während die Vermittlung des Fachwissens und der methodisch-didaktischen Kompetenzen zu kurz kommt. Der Einblick, den uns Wiedemann in die PH-Welt gibt, erinnert stark an die vom Lehrplan 21 beherrschte Volksschule: Viel oberflächlicher Aktionismus, wenig Kenntnisse, die sitzen. Aber machen Sie sich selbst ein Bild von seinen kritischen Anmerkungen.

Wenn daher Bildungsdirektorin Silvia Steiner («Kantonsrat will Laienlehrpersonen länger halten») die Anstellung von Quereinsteigern «an eine Teilzeitausbildung an der PH knüpfen» will, stellt sich die dringende Frage: Wie ist diese Ausbildung so zu gestalten, dass sie adäquat ist zur individuellen Situation der einzelnen Quereinsteigerin? Andernfalls entsteht nur eine weitere Blase, um an den PHs «hochbezahlte Stellen zu generieren» (Jürg Wiedemann).

Kindergärtnerinnen für den Chindsgi!

Ähnliche Überlegungen gelten aus einem anderen Blickwinkel auch für die Kindergärtnerinnen («Eine Zürcher Besonderheit vor dem Aus» / «Mehr Lohn für Kindergärtnerinnen»). Ob Kindergärtler von einer Kindergärtnerin ins gemeinsame Spielen und Basteln und Gärtnern samt den dazugehörigen Umgangsformen, und wenn nötig ins Schwyzertütsch (und vieles mehr), eingeführt werden, oder ob die Ausbildung zur Kindergärtnerin abgeschafft und der Chindsgi endgültig mit der Unterstufe verbandelt werden soll, darf von den Zürcher Leitmedien nicht auf einen Kampf zwischen links und rechts reduziert werden. Wenn ich Kindergärtnerin wäre, würde ich mich entschieden dagegen wehren, dass die Aufhebung meines verantwortungsvollen Berufes als «Abschneiden eines alten Zopfes» (von links) oder als Ergattern eines – mir eigentlich nicht zustehenden? – höheren Lohnes (von rechts) etikettiert wird. Was dagegen sicher stimmt, ist, dass wir Stimmberechtigten die Einführung der Grundstufe im Kanton Zürich an der Urne abgelehnt haben. Die Zusammenfügung des Kindergartens und der Unterstufe zum «1. Zyklus» des Lehrplan 21 bedeutete die kalte und die heute geplante Abschaffung der Kindergärtnerin die heisse Einführung der Grundstufe. Das Zürcher Stimmvolk wollte diese Vermischung nicht, weil Kinder für ihre Entwicklung Zeit brauchen, um unter verständnisvoller und gekonnter Anleitung einen Schritt nach dem anderen gehen zu können (bis sie «schulreif» sind, sagte man früher). Damit soll um Himmelswillen kein neugieriges und lernfreudiges Kind davon abgehalten werden, die Buchstaben und die Zahlen zu lernen, bevor es in die 1. Klasse kommt (ich selbst konnte beim Schuleintritt auch schon lesen und zusammenzählen).

Was der OL mit dem Lehrerberuf zu tun hat

Gehen wir zum Abschluss zum Leitartikel von Carl Bossard. Mit seinen Betrachtungen zum «OL als Metapher des Lebens und des Unterrichtens» nimmt er den Lehrerberuf von einer ganz anderen Warte aus in den Blick: der Spannung «zwischen Machbarem und Unsicherem», die wir Lehrer «aushalten und daraus die Spannkraft fürs Mögliche und Machbare generieren» müssen / können / dürfen. Ich plädiere für «dürfen» und erinnere mich an ein prägendes Erlebnis in den Anfängen meines Lehrerdaseins. Da hatte ich für meine Elektromechaniker-Klasse einen (meiner Meinung nach) spannenden Film für die letzte Lektion vor den Ferien organisiert und dachte, dabei könne nichts schiefgehen. Als die Schüler den Titel sahen, begannen einige zu murren, sie wollten keinen so langweiligen Film sehen. Meine Versuche, sie «gluschtig» zu machen, blieben fruchtlos, die Rebellion griff um sich. Fassungslos verteilte ich leere Blätter und gab irgendeinen Auftrag, dann verliess ich das Schulzimmer und klopfte einen erfahrenen Kollegen aus seinem Unterricht. Er holte einen Klassensatz Buchhaltungs-Aufgaben und riet mir, diese meinen jungen Rebellen vorzusetzen. Was für eine Überraschung erlebte ich bei meiner Rückkehr ins Schulzimmer! Die Schüler hatten den Film startbereit eingestellt und sassen alle manierlich auf ihren Stühlen. «Wir möchten jetzt gern den Film schauen», sagten sie. Offenbar hatte ihnen meine Flucht einen heilsamen Schock verpasst. Dieses Erlebnis lehrte mich, die Spannung «zwischen Machbarem und Unsicherem» mit mehr Gelassenheit auszuhalten.

Den Artikel von Carl Bossard kann ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, als stärkende Lektüre für angespannte Situationen empfehlen. Damit wünsche ich eine gute Lese-Zeit.

Für die Redaktion der Starken Volksschule Zürich

Marianne Wüthrich