Chancengleichheit
Von der Berufslehre prüfungsfrei an die Uni? Oder «wenigstens» an die PH? Und wie bringen wir die PH-Absolventen dazu, dass sie sich auf den Lehrerberuf einlassen und auch dabei bleiben wollen? Ist die Integration aller Kinder in die Regelklassen ein «Menschenrecht»? Führen diese und ähnliche Hypes, die seit Jahren herumschwirren, zu mehr Chancengleichheit? Oder sollten wir nicht anstelle solch aufgeregter und oberflächlicher Forderungen und Diskussionen immer wieder zur Grundfrage zurückkommen: Worauf kommt es in der Schule wirklich an?
Einer, der den Kompass nie aus dem Auge verliert, sondern unbeirrt zum «Kern der Schule» zurückkommt, ist Carl Bossard. Ihm überlassen wir auch in diesem Newsletter das erste Wort.
Warum Peter Bichsel und Albert Camus Schriftsteller geworden sind
Bichsels Primarlehrer hat «unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibefehlern» den guten Aufsatzschreiber entdeckt, er hat den Schüler «von sich selber überzeugt», ihn «zum Schriftsteller gemacht», so Bichsel. Ebenso prägend war Albert Camus' Lehrer, der «dem armen kleinen Kind» aus einfachen Verhältnissen seine «liebevolle Hand gereicht» hat und seine Schulkinder «für würdig hielt, die Welt zu entdecken».
Selbstverständlich kann keine Lehrerin einen Schüler ohne dessen Eigenleistung «zum Schriftsteller machen». Aber sie kann «die jungen Menschen zu sich selbst und sie aus sich heraus zu ihren Möglichkeiten führen», schreibt Carl Bossard. Sie kann – sie muss! – mit ihnen die Grundfertigkeiten aufbauen, «als Basis für alles weitere Lernen». Er fügt hinzu: «Darin liegt die zentrale Aufgabe der Schule.»
So einfach und doch so anspruchsvoll ist diese Aufgabe. Die ganzen Strukturreformen, die in den letzten Jahrzehnten auf die Schule herabgeprasselt sind, haben in keiner Weise das gebracht, was uns die «Experten» vorgegaukelt haben. Aber die Lehrerin, die ihre Schüler für den Lernstoff begeistert und ihnen den Weg zeigt zum Verstehen-Wollen, zum Dranbleiben, zum Üben und Vertiefen, die ihnen zumutet, auch steinige Stellen zu überwinden und dadurch zu wachsen – sie legt den Boden für die Chancengleichheit.
Chancengleichheit ist die Eröffnung von Entwicklungsmöglichkeiten für alle Schüler, welcher Herkunft auch immer, durch Lehrerpersönlichkeiten, die eine umfassende Bildung, Interesse an der Welt, Einfühlsamkeit und Freude an den Kindern mitbringen. In diesem Sinne war die Atmosphäre in den Schulstuben von Peter Bichsel und von Albert Camus von Chancengleichheit geprägt. Wohlgemerkt: Es handelt sich um zwei Buben, denen es nicht in die Wiege gelegt war, berühmte Schriftsteller zu werden…
Führt der Abbau von Hürden zu mehr Chancengleichheit?
Von der Berufslehre an die Uni, das ist im durchlässigen Schweizer Schulsystem möglich. Die «Passerelle»-Prüfung öffnet seit 17 Jahren Lehrabsolventen mit Berufsmatura den Weg an die Universitäten («Lehrlinge an die Uni? Experte warnt»). Und zwar laut einer neuen Studie auch «vermehrt jungen Menschen aus bildungsferneren Familien». Weil aber die meisten Berufsmaturanden lieber prüfungsfrei an eine Fachhochschule gehen und nur rund fünf Prozent den lernintensiven Weg über die Passerelle an die Universität wählen, hat der Nationalrat in der Herbstsession einem Postulat zugestimmt, das die Passerelle ganz oder teilweise abschaffen soll: Sie stelle «eine zu grosse Hürde dar», die «geeignete und motivierte Menschen unnötig von einem Studium abschrecke», sagte eine Nationalrätin. Den Zugang an die Pädagogischen Hochschulen wollen einige Parlamentarier den Berufsmaturanden sogar prüfungsfrei gewähren. Demgegenüber stellt Carl Bossard («Bitte nicht in Visionen abdriften!») die berechtigte Frage in den Raum, ob die heutigen PH-Abgänger genügend vorbereitet seien für einen guten Unterricht. Mehr Bildung sollten die künftigen Lehrer mitbringen, nicht weniger!
Die «hohe Hürde» besteht übrigens darin, dass die Berufsmaturanden etwa ein Jahr für den Besuch von Kursen einsetzen, um ihre Wissenslücken im Vergleich zu Gymnasiasten zu füllen und damit bessere Chancen für ein erfolgreiches Studium zu haben. Ist es eine Unterstützung für die lernbereite Jugend, solche «Hürden» abzubauen? Sollten wir sie nicht eher ermutigen, sich dranzumachen und die Hürden zu nehmen, damit sie gut gerüstet an die Uni gehen können?
Chancengleichheit für Kinder mit besonderen Bedürfnissen
Wir können dem Kleinsten seinen «Nachteil» nicht wegzaubern, indem wir ihm ein Gerüst unter die Füsse schieben. Vielmehr sollten wir ihm sagen: Auch wenn du kleiner bist als deine Mitschüler, kannst du deine Ziele im Leben ebenso erreichen, komm, ich zeige dir wie.
Genau diese Problematik thematisiert das neuerschienene Buch «Integration, Separation, Kooperation» aus der Feder von drei Heilpädagogen. Als Lehrerin ohne heilpädagogische Bildung und Praxis habe ich es mit Interesse und zunehmender Faszination gelesen und mich für das Verfassen einer Rezension entschieden. Für die Autoren steht im Grunde immer die Frage im Raum: Wie kann die Chancengleichheit für Kinder mit einer Beeinträchtigung am besten gewährleistet werden? Es zeigt sich in der Praxis, dass eine Kleinklasse oder eine Heilpädagogische Schule dem einzelnen Kind oft grössere Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben eröffnet als die Integration in eine Regelklasse.
Carl Bossard zitiert in seinem 2. Artikel in diesem Newsletter («Bitte nicht in Visionen abdriften!») die Zürcher Bildungsdirektorin und EDK-Präsidentin Silvia Steiner mit den hochgestochenen Worten: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht.» Oberflächlicher und lösungsresistenter geht's nimmer! Kinder, Eltern und Lehrkräfte bleiben dabei auf der Strecke – oder wir protestieren gegen derartige Schönfärberei und fordern echte Lösungen. Zum Beispiel in der Art der drei Buchautorinnen.
Systemversagen der Bildungspolitik zeigt sich an den Folgen
Dieselbe Zürcher Bildungsverantwortliche erklärte auf einem «Bildungspodium», das Schweizer Schulsystem sei «grundsätzlich auf einem sehr guten Weg. Wir haben ein riesiges Stütz- und Fördersystem». Mit Recht empört sich der erfahrene Pädagoge Carl Bossard über diese dogmatisch gefärbte Brille, die über die grossen Probleme der integrativen Klassen, des «selbstorganisierten Lernens» und des immer noch untauglichen Lehrplans 21 ganz einfach hinwegsieht. Aber lesen Sie selbst seine klare Analyse.
Eine gravierende Folge der unguten Reformen ist längst bekannt: Jeder fünfte Fünfzehnjährige verlässt die Schule «ohne die notwendigen sprachlichen Grundkenntnisse» (zitiert bei Carl Bossard). Statt sofort Hand zu bieten für eine Volksschulbildung, die diesen Namen verdient, serviert der Präsident des Schweizerischen Schulleiterinnen- und Schulleiterverbandes, Thomas Minder, abgedroschene Phrasen: Er wolle «sicher keine Schule, die sich hundert Jahre lang nicht weiterentwickelt», und so weiter in diesem Stil («Eine Primarlehrkraft ist eine eierlegende Wollmilchsau»).
Ähnlich schlechte Grundkenntnisse wie viele Schweizer Kinder weisen auch deutsche Grundschüler auf, wie Heike Schmoll («Die deutsche Bildungsmisere») schreibt: Ein Fünftel der Viertklässler «erreicht nicht einmal die Mindestanforderungen beim Lesen, in der Rechtschreibung und in der Mathematik.» Diese Pädagogin beschränkt sich aber nicht auf faule Ausreden, sondern hält fest, dass weder die pandemiebedingten Einschränkungen noch die vielen Kinder mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Familien an dieser Misere schuld sind. Und sie sagt, was Sache ist: «Die Grundschulen werden sich auf bewährte Übungen besinnen müssen», wie lautes Lesen, Diktate, usw.
Jawohl, das nennt man Chancengleichheit: Alle sollen die Chance haben, lesen, schreiben und rechnen zu lernen. In der Schweiz bräuchten wir dringend mehr solche Bildungsforscher und Amtsinhaber!
Für die Starke Volksschule Zürich
Marianne Wüthrich