Die Schule erfüllt ihren Auftrag nicht – der Schrei nach einem Paradigmenwechsel wird lauter
Als positiven Auftakt unseres Newsletters können wir Ihnen die Medienmitteilung unseres Präsidenten zur Überreichung der Petition «Wieder ein dreiteiliges Sek-Schulmodell in Wetzikon!» vorstellen. Zum Start der Petition lud der Verein «Starke Volksschule Zürich» im Mai zu einer Veranstaltung in Wetzikon ein, wo Timotheus Bruderer, selbst Vater und Mitglied im Wetziker Gemeinderat, die Petition vorstellte. Mehrere Gemeinderäte und andere Wetziker waren anwesend und unterschrieben, ebenso die meisten übrigen Teilnehmer. Mit mehr als 900 Unterschriften wurde die Petition nun am 20. September eingereicht. Die Unterzeichner wollen wieder eine Oberstufe, die allen Schülern, besonders den lernschwächeren, gerecht wird. Die «Starke Volksschule Zürich» hofft, dass die Wetziker Behörden diesem dringenden Anliegen aus der Bevölkerung ihre Aufmerksamkeit schenken werden. Wir werden weiter berichten.
Der Schlüsseltext in unserer Sammlung ist zweifellos der anschauliche und unbedingt lesenswerte Bericht des erprobten Sekundarlehrers Raymond Diebold über sein Jahr als Pensionierter in einer heutigen Oberstufenklasse. «Die Analyse der Schul-Misere ist zu Recht schonungslos, alles andere wird uns nicht weiterhelfen», schreibt Schulpfleger Markus Wettstein in seinem Leserbrief dazu. Jawohl, jetzt müssen die Bildungsverantwortlichen, wie beide Leserbriefschreiber fordern, endlich handeln!
Diebolds wichtigste Kritikpunkte
- Die «Kürzel und Diagnosen», welche heute zu Sondersettings aller Art führen, waren dem Autor weitgehend fremd, weil die Kinder früher in der Sek, Real oder einer Kleinklasse nach ihren Bedürfnissen unterrichtet wurden und mehrheitlich gut vorankamen.
- «Wer bis anhin nicht begriffen hat, was unter <administrativer> Belastung» zu verstehen ist, weiss es jetzt.» (Leserbrief von Hans-Peter Köhli)
- «Lernbegleitung» statt Unterricht funktioniert nicht: Während der Schulstunden war «bei meinen B-Schülern meine aktive Präsenz nötig». Dies gilt übrigens für alle Schüler, auch die leistungsstarken wollen etwas vom Lehrer lernen und brauchen oft ebenso Anleitung im sozialen Miteinander.
- Inklusionsklassen fördern die Chancengleichheit nicht: «Ich verstehe und respektiere, dass es schulische Defizite gibt. Aber ich habe Mühe mit dem Konzept der schulischen Inklusion. Ich verstehe nicht, warum heute alle Schüler in einer Klasse unterrichtet werden, nur um den Schein der Gleichberechtigung oder der Chancengleichheit zu wahren.» Recht hat er: Echte Chancengleichheit besteht nicht darin, im selben Zimmer wie alle anderen zu sitzen, sondern einen Unterricht zu erhalten, der das Kind voranbringt.
- Klassenunterricht ist in allzu heterogenen Klassen nicht möglich: Wegen der verschiedenen Betreuungen einzelner Kinder gibt es «ein Kommen und Gehen. Fazit: Ich hatte nie die ganze Klasse von 18 Schülerinnen und Schülern zusammen»!!
- «Für eine Klassenlehrperson ist es nicht möglich, eine solch heterogene Klasse so zu betreuen, dass alle Bedürfnisse abgedeckt sind. Beim besten Willen nicht.» Wenn die unerlässliche Grundlage allen Lehrens und Lernens, die tragende Beziehung zwischen Lehrer und Schülern, in den heutigen Inklusionsklassen auch für einen erprobten Lehrer nicht möglich ist, dann gibt es nur eins: Das ganze Experiment endlich stoppen und zurück auf Feld 1!
Kritik am heutigen Schulmodell ist grundsätzlicher Art
Ich habe mir erlaubt, der Besprechung von Raymond Diebolds Artikel mehr Raum zu geben als üblich. Denn seine Kritik am heutigen Schulmodell ist grundsätzlicher Art und kann nicht mit ein paar Reförmchen erledigt werden.
Einiges zu sagen zu den vielfältigen Ursachen des heutigen Lehrermangels hat auch unser Redaktionskollege Hanspeter Amstutz («Lehrermangel als Quittung für übersteigerte gesellschaftliche Erwartungen an die Volksschule»). Die Stellungnahmen dieser zwei erfahrenen Lehrerpersönlichkeiten ergänzen sich sehr gut.
Noch ein Wort zur Lehrerbildung: Der Autor und andere Stimmen empfehlen, «motivierte und fähige Quereinsteiger» zu fördern. Einverstanden, aber diese müssen zuerst eine gründliche Lehrerbildung durchlaufen, die auf solidem Wissen und praktischer Anleitung im Schulzimmer basiert. Jeder Leser wird den augenfälligen Unterschied merken zwischen dem Bericht Diebolds und den munteren Wortmeldungen von derzeit in der Schule eingesetzten Leuten ohne Lehrerbildung, die bereits nach wenigen Wochen Erfahrung glauben, sie «könnten es». Als langjährige Lehrerin kann ich nur sagen: Mit zunehmender Berufserfahrung wird man bescheidener. Besonders zu denken geben muss aber auch die grosse Zahl von PH-Abgängern, die nach kurzer Zeit wieder aus dem Lehrerberuf aussteigt. Zusammen mit den untauglichen Schulreformen muss deshalb auch die aktuelle Lehrerbildung an den PHs dringend unter die Lupe genommen werden.
Angstfach Mathematik? Ein Schlaglicht auf den untauglichen Lehrplan 21 und die entsprechende Lehrerbildung
Eines hat Sek-Lehrer Diebold bei seinem Negativ-Durchlauf durch die aktuelle Schulsituation vergessen: den Lehrplan 21. Vielleicht hat er neben seinen erprobten Lehr-Methoden auch seine früheren Lehrmittel mitgebracht? Ein treffendes Beispiel für das untaugliche Lehr- und Lernverständnis des Lehrplan 21 ist der Artikel über das sogenannte «Angstfach» Mathematik.
Zunächst ist die Bezeichnung «Angstfach», für welche Disziplin auch immer, äusserst unprofessionell. Wer vorher keine Angst davor hatte, könnte sie bekommen, wenn der Lehrer mit diesem Vorurteil ins Schulzimmer kommt. In Wirklichkeit kann jedes Kind Mathe lernen, wenn seine Lehrerin den Lernstoff mit der Klasse in einem strukturierten Aufbau erarbeitet und – wie es für den fachlich und persönlich fähigen Pädagogen selbstverständlich ist – den unsicheren Lernern Ermutigung und zusätzliche Hilfe gibt. Und wenn die Lehrerin ihre eigene Freude an den spannenden Aufgaben in ihre Klasse hineinträgt.
Lassen Sie sich – im Gegensatz zu diesem gesicherten pädagogischen Vorgehen – folgenden Satz aus dem besagten Artikel auf der Zunge zergehen: «Wenn alle Kinder sich über ihre Entdeckungen austauschen und diese, mithilfe der Lehrperson, reflektieren und strukturieren, erleben sie sich als Teilnehmende einer gemeinsamen, bedeutungsvollen Tätigkeit – was nachweislich einen viel grösseren Lerneffekt hat als schlichtes Belehrtwerden.» Und so sollen sie das Einmaleins lernen?
Dieses abstruse Gerede hat Prinzip: «Wir haben in der Schweiz die gute Situation, dass mit dem neuen Lehrplan 21 ein solcher Unterricht mit reichhaltigen Aufgaben normativ gesetzt ist.» So wird die Didaktik-Professorin und Leiterin Fachbereich Mathematik Kindergarten- und Primarstufe an der PH St. Gallen, Barbara Ott, zitiert. Und da sollen die kleinen Mathe-Anfänger keine Angst bekommen? Übrigens ist das Einprägen aller Reihen des kleinen Einmaleins, bis sie «hinderschi und vürschi» sitzen, kein Lernziel des Lehrplan 21. Im 2. Zyklus (also bis Ende 6. Primarklasse) ist zu lesen: «Die Schülerinnen und Schüler kennen die Produkte des kleinen Einmaleins.» Kein Wunder, haben heute viel mehr Kinder als früher das Gefühl, Mathe könne man nicht lernen!
Welche Schule braucht unsere Jugend?
Als Ergänzung zum bereits Gesagten bringt der Bericht über das NZZ-Foyer zum Thema «Leistungsgesellschaft – welche Schule braucht der Mensch?» einige Erkenntnisse, die zwar nicht neu, aber doch erwähnenswert sind. Margrit Stamm («In der Schule scheitern kann wertvoll sein») thematisiert einmal mehr den Leistungsdruck, unter dem viele Kinder stehen, weil ihre Eltern nur das Gymi als erfolgversprechenden ersten Karriereschritt für ihre Kinder sehen. Als langjährige Berufsschullehrerin hätte ich dazu einiges zu sagen, aber die beiden ebenfalls am NZZ-Foyer referierenden Teilnehmer Sergio Ermotti und Oliver Meier nehmen mir dies dankenswerterweise ab. Spitzenmanager Ermotti startete nämlich seine Karriere mit einer Berufslehre und «steht damit exemplarisch für die Durchlässigkeit des Bildungssystems», so die NZZ. Und der Hochbau-Projektleiter und eidgenössisch diplomierte Baumeister Oliver Meier hat mit einer Maurerlehre begonnen und ruft die Arbeitgeber dazu auf, junge Leute auszubilden und ihnen Perspektiven zu bieten. Was die meisten Schweizer Unternehmen, wie Meier bestätigt, längst tun.
Was die Zürcher Bildungsdirektorin und EDK-Präsidentin Silvia Steiner zur gestellten Frage zu sagen hat, erspare ich mir und Ihnen. Nur eine Bemerkung dazu: Von den Verantwortlichen für den heutigen Zustand der einst guten Volksschule und der Lehrerbildung erwarten wir mehr als schöne Worte.
Maturität – Reformen ohne Not
Den Abschluss unseres Newsletters macht der aufrüttelnde Kommentar des Gymnasiallehrers René Roca zur geplanten Maturitätsreform, die zurzeit in Vernehmlassung ist. Der Autor weist darauf hin, dass nach Harmos, Lehrplan 21 und Bologna nun als «letzter Baustein» die Maturitätsschulen in die Mange genommen worden sollen, obwohl die genannten Reformen bekanntlich äusserst fragwürdige Resultate erbracht haben. Roca fordert statt der Fixierung auf ideologisch motivierte «Kompetenzen» wieder eine humanistische Bildung mit Lernzielen, die auf einem vernünftigen Wissensbegriff basieren. Unterstützt wird er durch den Leserbrief eines anderen Gymi-Lehrers, der zu einer breiten und sachlichen Debatte, insbesondere über die Bildungsanliegen von Demokratiefähigkeit und Ethik aufruft.
Jeder Kommentar und jeder Leserbrief aus der Feder einer Lehrerin oder eines anderen um die Bildung unserer Jugend besorgten Bürgers ist ein wichtiger Beitrag.
Wir wünschen Ihnen viel Anregung beim Lesen.
Marianne Wüthrich