Die Schule – noch ein Lernort oder eher eine Hüte-Institution?
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In all dem Bildungsreformen-Wirrwarr und dem akuten Lehrermangel an den Schulen tut es gut, einen Schritt zurück zu machen und das Ganze wieder einmal aus einer Distanz zu betrachten. Wie ist es eigentlich zu diesem Schlamassel und den heutigen Zuständen gekommen?
So nimmt uns der erste Artikel aus unserer aktuellen Newsletter-Auswahl mit in die Anfänge der «Bildungs-Talfahrt» – also damals, als durch den sogenannten «PISA-Schock» der schweizerische «Bildungs-Turm von Pisa» anfing, in Schieflage zu geraten – bis hin zum Lehrplan 21, der im Schulalltag unterlaufen werde, weil er wenig praxistauglich sei. Dies wäre noch zu verkraften, wenn die Schweiz durch den neuen Lehrplan nicht unter den OECD-Durchschnitt gefallen wäre. Wie lange es wohl unser schiefer Turm von Pisa noch aushält, bevor er unter der Last des bürokratischen Überbaus, der zahlreichen Reformen und dem «Therapiegürtel» von Institutionen zusammenbricht? Zu Recht wird die Frage gestellt, ob die Schule heute noch ein Lernort oder eine Hüte-Institution sei.
In einer erfrischenden Art schlägt Daniel Fritzsche in seiner Kolumne «Das befreite Klassenzimmer» in die gleiche Kerbe. Trotz der prekären Lage «will man sich nicht eingestehen, dass viele der Bildungsreformen der jüngsten Vergangenheit gescheitert sind und einer Überholung bedürfen.» Und mit all dem «Overhead», mit dem sich Lehrpersonen herumschlagen müssen, beleuchtet der Autor eine weitere, wichtige Ursache: «Vor lauter Vernetzung bleibt wenig Zeit für das eigentlich Wesentliche: die Arbeit mit den Kindern.» Auch wenn der Lehrberuf in der heutigen Gesellschaft komplexer scheint, liegt die Antwort in einer Entschlackung des Schulbetriebs und Konzentration auf den Kern des Unterrichtens – eben, dass ein Lehrer ganz einfach lehrt.
Dass im Berufsleben nicht das «Was», sondern das «Wie» entscheidend ist, wird uns von Carl Bossard anhand eines Pöstlers prägnant vor Augen gemalt und mithilfe der Erkenntnisse einer Politphilosophin meisterhaft eingerahmt. Im Gegensatz zum Output (dem «Was»), ist das «Wie» nicht quantifizierbar. Es ist aber gerade diese Leidenschaft, die eine «Haltung jenseits der Erledigungsmentalität generiert». Auch im Lehrberuf gilt es, dieser Leidenschaft Sorge zu tragen. Leidenschaftlich legt uns Christine Richard dann auch ihre sechs Lektionen dar, die sie als Lehrerin gelernt hatte. Dass sie diesen Beruf dennoch wieder aufgab, ist vielleicht dem Umstand zu verdanken, dass – wie sie selbst schreibt – «die Schule schon damals eine Notfallambulanz für alles war, woran die Gesellschaft krankt.»
Dass in vielen Klassen trotz eines Betriebs mit Dauerbaustellen versucht wird, das Beste aus der verfahrenen Situation zu machen, ist ganz sicher kein Verdienst der kantonalen Bildungspolitik. Vielmehr sind es engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die letztlich wissen, worauf es beim Unterrichten ankommt. Sie legen den Lehrplan zur Seite und streichen das überladene Bildungsprogramm zusammen. Sie sind überzeugt, dass sie nur so den Kindern gerecht werden können. Sie verzichten weitgehend auf selbstorganisiertes Lernen und sind bereit, sich dem Vorwurf auszusetzen, in erster Linie «frontal» zu unterrichten. Dank diesen mutigen Lehrpersonen funktioniert unsere Schule an vielen Orten noch einigermassen. Doch wie lange noch?
Dieses auf Sonderanstrengungen beruhende Funktionieren vieler Schulen entschuldigt das Versagen der Bildungspolitik in keiner Weise. Das Missachten von unsinnigen Vorgaben zeugt zwar von Zivilcourage vieler Lehrpersonen. Doch viele besser wäre es, endlich die richtigen Schlüsse aus gescheiterten Reformen zu ziehen. Da wäre als erstes die Wiedereinführung von Kleinklassen zu nennen. Das integrative Schulmodell mit seinen übertriebenen Erwartungen an die Individualisierung des Schulbetriebs ist zur grössten Belastungsfaktor für die Lehrpersonen geworden. Unzählige Einsteigerinnen haben den Schuldienst quittiert, weil sie mit der Sonderbetreuung von stark verhaltensauffälligen Schülern einfach überfordert waren. Es ist höchste Zeit, dass die Bildungspolitik sich von diesem unseligen Integrations-Dogma verabschiedet.
Mit Leserbriefen aus engagierten Federn und wichtigen Veranstaltungshinweisen runden wir diesen Newsletter ab. Sie sehen: erneut ein bunter Strauss an kritischen Analysen, Beurteilungen und konkreten Vorschlägen für eine Instandsetzung unseres schiefen Pisa-Turms. Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre!
Timotheus Bruderer
Präsident «Starke Volksschule Zürich»