Erfrischende Klartexte zum Lehrermangel
Not macht erfinderisch und schafft andere Prioritäten. Was die NZZ am Sonntag in ihrem Ratgeber «Crashkurs» an handfesten Empfehlungen an junge unausgebildete Lehrpersonen vorschlägt, dürfte noch heftige Wellen werfen. Da ist keine Rede mehr von Lernbegleiterinnen, welche als graue Mäuse den Schülern beim Lernen helfen. Lehrpersonen sollen vielmehr wie Leitwölfe mit viel Empathie ihre Klassen führen und sich Zeit nehmen sich für die Welt der Jugendlichen zu interessieren. Den überfüllten Lehrplan könne man getrost zur Seite legen, da er als Bildungskompass im Schulalltag nichts tauge. Statt mit Aufträgen für selbstorganisiertes Lernen in Form von Wochenplänen zu starten, sei ein klar strukturierter gemeinsamer Klassenunterricht klar vorzuziehen. Guter Frontalunterricht verhindere viel Frustration und bringe mehr Erfolg. Und mit einem Seitenhieb gegen die akademische Fachdidaktik wird appelliert, sich nützliche Unterrichtsmaterialien besser bei den Teamkollegen zu beschaffen.
Didaktische Empfehlungen mit klarer Trennung der Spreu vom Weizen
Die Ausschnitte aus dem «Crashkurs» sind hier nur unvollständig wiedergegeben. Doch sie zeigen, wie sehr zurzeit pragmatische Lösungen absoluten Vorrang haben. Die Empfehlungen richten sich dabei nicht nur an Berufseinsteiger ohne Ausbildung, sondern an alle jungen Lehrpersonen. Noch vor wenigen Monaten hätten man solch unverblümt klaren Ratschläge kaum in einer Tageszeitung lesen können. Was ist da passiert, dass es so weit kommen konnte?
Offenbar haben kritische Journalisten gemerkt, dass praxisferne Konzepte ganz gehörig den Schulbetrieb lähmen und den gegenwärtigen Lehrermangel mitverursacht haben. Man hat genug von den ewigen Beschönigungen von Seiten der Bildungsdirektionen und wünscht sich Pädagogische Hochschulen, die näher am Puls der Praxis sind. Der erfrischende Wind in der Berichterstattung über die Volksschule deckt vieles nun endlich auf. Die gescheiterte schulische Integration, die Überforderungen durch ein überladenes Bildungsprogramm und die überzogenen Ansprüche an die Lehrerschaft im schulischen Umfeld dürfen nicht länger verdrängt werden. Als Beispiel für das Kleinreden der aktuellen Probleme haben wir am Schluss ein Interview mit der Zürcher Bildungsdirektorin in den Newsletter aufgenommen.
Ein Einsteigerkurs ersetzt keine gründliche Lehrerbildung
Quereinsteiger mit pädagogischer Begabung sind zweifellos ein Gewinn für die Volksschule. Aber diese Talente müssen bereit sein, einen grossen Teil der umfassenden Lehrerbildung nachzuholen. Wie anspruchsvoll eine gute Lehrerbildung ist, zeigt uns Carl Bossard in seinem Beitrag mit dem Titel «Bildungspolitischer Rückzug ins Funktionale». Der Autor weist darauf hin, dass Lehrersein weit mehr als das professionelle Vermitteln von Kompetenzen ist. Das dynamische Beziehungsdreieck von Lehrperson – Schüler - Unterrichtsstoff auszutarieren ist eine grosse Kunst. Eine Lehrerin darf dazu stehen, eine Kapitänin mit Führungsfunktion zu sein. Sie soll sich in die Welt der Kinder versetzen können und ihre Begabungen erkennen. Und sie hat den Auftrag, den Schulstoff so anschaulich und spannend zu vermitteln, dass die Kinder das Lernen als Bereicherung empfinden. Dieser Dreiklang der schulischen Pädagogik lässt sich nicht in einer Schnellbleiche erwerben, wie zurzeit einige inkompetente Bildungsfunktionäre aus der Not heraus behaupten.
Es passt ins Bild der neuen Offenheit, dass die eigentlichen Ursachen des Lehrermangels nun in vielen Berichten nicht mehr ausgeblendet werden. Raphaela Birrer schreibt im Tages-Anzeiger, dass in drei Hauptbereichen einiges schiefgelaufen sei. Sie kritisiert die Arbeitsbedingungen für die Klassenlehrkräfte mit den heterogenen Schülerscharen scharf, da das Integrationsmodell unter den aktuellen Rahmenbedingungen eine zu grosse Belastung sei. Fehlende Wertschätzung mancher Eltern für die fachliche Kompetenz der Lehrpersonen und der organisatorische Mehraufwand durch zu viele Kleinpensen zählen in den Augen der Autorin zu den weiteren grossen Belastungsfaktoren.
Keine guten Noten für die Bildungspolitik der letzten Jahre
Ähnlich offen berichtet Alain Pichard aus seinem Schulalltag und seinen Erfahrungen aus der Politik. Er geht hart ins Gericht mit der Bildungsallianz zwischen Politik, Verwaltung und Ausbildung. Diese Trage eine Mitschuld für eine Reihe von Fehlentwicklungen in der Volksschule. In vielen Fällen seien nicht die Anliegen der Schülerinnen und Schüler an erster Stelle gestanden, sondern die Aussicht auf Lehraufträge oder gut bezahlte Projektarbeiten. Eine markante Aussage macht der Autor mit seiner Forderung, die Schule müsse sich wieder aufs Wesentliche konzentrieren. Unterrichtslektionen seien keine Betreuungsstunden und Lehrer keine Sozialarbeiter. Schulischer Wunschbedarf wie zusätzlicher Sport oder Hobbykurse könnten auch von Personen ohne Lehrdiplom abgedeckt werden.
In einen weiteren Bericht erleben wir den Schulalltag einer Lehrerin, welche selber mit ADHS-Anlagen aufgewachsen ist. In einem äusserst farbigen Einblick sehen wir, wie eine engagierte Lehrerin trotz mancher Widerwärtigkeiten mit Freude unterrichtet und den Umgang mit kritisch eingestellten Eltern meistert. Im ermutigenden Bericht schimmert aber durch, wo in den letzten Jahren gewisse negative Veränderungen eingetreten sind.
Haben Sie Lust, noch etwas schwerere Kost zu verdauen? In der Analyse von Eliane Perret finden Sie Denkanstösse, um den tieferen Ursachen des Lehrermangels auf den Grund zu gehen. Die Autorin sieht globale Zusammenhänge wirtschaftlicher Natur, welche schon seit Jahren über internationale Abkommen schleichend auf unser Schulsystem eingewirkt haben.
Volle Unterstützung für Quereinsteiger als Gebot der Stunde
Das umstrittene Thema der Lehrpersonen ohne Diplom schliessen wir ab mit einer statistischen Übersicht aus dem Tages-Anzeiger und einem Bericht über zwei Quereinsteigerinnen mit viel hoffnungsvoller Energie. Der Bericht zeigt, dass von allen Seiten viel guter Wille da ist, den beiden den Einstieg möglichst zu erleichtern. Ob alles gut geht, wissen wir nicht, aber aufgrund der Einstellung und der persönlichen Voraussetzungen ist durchaus Optimismus angezeigt. Und wenn die beiden nachher die Ausbildung nachholen, zählt auch die Schule zu den Gewinnern.
Im Schlussbouquet werfen wir einen Blick auf bildungspolitische Vorstösse im Kantonsrat und das erwähnte Interview mit Regierungsrätin Steiner. Dazu kommen ein Leserbrief und zwei Hinweise zu wichtigen Veranstaltungen. Es würde uns freuen, wenn wir mit den ausgewählten Beiträgen der vergangen zwei Wochen zeigen konnten, dass wirklich eine grosse Bewegung in die Bildungsdiskussion gekommen ist. Das stimmt uns hoffnungsvoll.
Für die Redaktion Starke Volksschule Zürich
Hanspeter Amstutz